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  • Folgen des Kohleausstiegs

Von der Schippe in die Schwebe

Das sächsische Dorf Pödelwitz ist dem Braunkohlentagebau entkommen, aber von neuem Leben noch weit entfernt

  • Hendrik Lasch, Pödelwitz
  • Lesedauer: 8 Min.
Pödelwitz sollte eigentlich dem Tagebau weichen. Nun bleibt das Dorf mit den 40 Wohnhäusern aber stehen.
Pödelwitz sollte eigentlich dem Tagebau weichen. Nun bleibt das Dorf mit den 40 Wohnhäusern aber stehen.

Nummer 20 steht leer: ein alter Dreiseithof am Dorfanger von Pödelwitz. Auch Nummer 9, ein älteres Einfamilienhaus, ist verwaist. Bei den Häusern Nummer 10 und 11, schmalen Gehöften auf langen Grundstücken, hängen dicke Schlösser an den Toren; Schilder warnen vor einem Betreten. Fast überall in dem Ort südlich von Leipzig herrscht gespenstische Stille. 40 Wohnhäuser gibt es; 32 sind unbewohnt. Rollläden sind geschlossen, Gardinen hängen hinter blinden Fenstern, Gärten verwildern. In Pödelwitz, so scheint es, ist gerade nicht viel Leben.

Dabei wurde der totgeglaubte Ort vor gut einem Jahr wieder reanimiert. »Pödelwitz bleibt!«, teilte das sächsische Wirtschaftsministerium am 21. Januar 2021 mit. Zuvor hatte es Verhandlungen mit der Mitteldeutschen Braunkohlengesellschaft (Mibrag) gegeben. Das Unternehmen betreibt den Tagebau »Vereinigtes Schleenhain«, der das Dorf auf zwei Seiten umschließt. Bagger fördern dort Braunkohle, die im nahe gelegenen Kraftwerk Lippendorf verfeuert wird. In ein paar Jahren hätten sie auch das 700 Jahre alte Dorf verschlungen. Die meisten der Bewohner entschieden sich deshalb schon vor Jahren für einen Umzug, verkauften ihre Häuser an die Mibrag und zogen in ein komfortables Wohngebiet, das der Kohleförderer in einem Nachbarort erschloss. Nur eine Handvoll Widerspenstiger harrte aus. Sie gründeten die Bürgerinitiative »Pödelwitz bleibt« und kämpften für den Erhalt des Dorfes. Jens Hausner ist einer der Aktivisten. Er sagt: »Mich hätten sie schon heraus klagen und enteignen müssen.«

Das ist nicht mehr nötig. Der Ort bleibt stehen. Verantwortlich sind zum einen der mit Blick auf den Klimawandel beschlossene deutsche Kohleausstieg bis 2038, zum anderen die Koalitionsarithmetik nach der Landtagswahl in Sachsen 2019. Damals traten die Grünen erstmals im Freistaat in eine Regierung ein. Einer der wichtigsten und symbolträchtigen Punkte, den sie in den Koalitionsvertrag schreiben ließen: Man wolle »den Ort Pödelwitz erhalten und die Inanspruchnahme der Ortslage vermeiden«. Dazu solle es Gespräche mit der Mibrag geben. Als diese schließlich anstanden, war bereits klar, dass das Kraftwerk Lippendorf nicht wie geplant bis 2040 laufen würde. Das Bergbauunternehmen sagte zu, Pödelwitz zu verschonen. Man habe »einen sehr emotionalen Punkt aus dem Koalitionsvertrag erfüllt«, sagte SPD-Wirtschaftsminister Martin Dulig. Das Dorf war von der Schippe gesprungen.

Nun aber hängt es in der Schwebe. Denn wer erwartet hatte, dass in Pödelwitz bald wieder Leben einziehen würde, sieht sich getäuscht. Zwar könnte das Dorf, in dessen Infrastruktur wegen seines absehbaren Endes viele Jahre lang nicht mehr investiert worden war, schon bald eine moderne Abwasserentsorgung bekommen und an schnelles Internet angeschlossen werden, sagt Maik Kunze, Bürgermeister der Stadt Groitzsch, deren Ortsteil Pödelwitz ist: »Die Planungen laufen.« Doch der Großteil der Häuser steht vorerst weiter leer und verfällt. Es ist auch nicht absehbar, wann sie wieder bezogen werden - und von wem. »Wir fühlen uns«, sagt Jens Hausner, »allein gelassen.«

Dabei mangelt es an Visionen für den Ort nicht. »Man kann die Leere füllen«, sagt Matthias Werner: »Mit etwas, das noch nie da war.« Werner arbeitet im Verein »Pödelwitz hat Zukunft«, der im Jahr 2021 gegründet wurde und in dem Enthusiasten Ideen für das Dorf entwickeln, dank derer es zum Musterbeispiel für einen gelungenen Strukturwandel nach dem Ende der Braunkohleförderung im Süden von Leipzig werden könnte: weg von der fossilen Gegenwart, hin zu einer ökologischen, nachhaltigen Zukunft. »Hier kann man zeigen, wie sich Leben auf dem Dorf gestalten ließe«, sagt Werner. Er ist selbst auf dem Land groß geworden - aber in einem Dorf, das er nicht für zukunftsfähig hält. »Jeder hatte dort sein Haus, sein Grundstück, seinen Pool und seinen Rasenmäher«, sagt er: »Morgens fuhren die Leute in die Stadt zur Arbeit, abends kamen sie wieder zurück.«

Pödelwitz könnte anders werden: ein Ort, in dem Menschen gemeinschaftlich leben und arbeiten. Gemeinsames Eigentum, Wohnprojekte, solidarische Landwirtschaft, Co-Working-Spaces, kreative Start-ups - das sind Stichwörter, die in den Arbeitsgruppen des Vereins diskutiert werden. Manche der Gruppen treffen sich dreimal pro Woche und planen schon sehr detailliert. Sie stellen sich einen Strukturwandel vor, in dem die Fördergelder im Leipziger Süden nicht, wie jetzt vorgesehen, zu einem Gutteil in die Autobahn A 72 gesteckt werden, »nur damit man schneller aus den Dörfern wegkommt«, wie Werner sagt. Vielmehr solle es um zukunftsfähige Lebensmodelle gehen, um schonenden Umgang mit Ressourcen, um den Aufbau einer echten Dorfgemeinschaft. In Pödelwitz gebe es die Chance, solche Visionen umzusetzen. Für ihn und seine Mitstreiter sei Pödelwitz ein »Sehnsuchtsort«, sagt Werner, der derzeit in einem Wohnprojekt in Leipzig wohnt, aber gern aufs Land ziehen würde. So wie ihm geht es vielen: »Wir haben über 100 Interessenten«, sagt Hausner: »Wir könnten sofort loslegen.«

Das Problem ist aber: Die Grundstücke und Häuser, um die sich die Träume ranken, gehören der Mibrag. Der Verein »Pödelwitz hat Zukunft« würde sie gern in eine Eigentumsform überführen, die es ermöglichte, seine Visionen umzusetzen, etwa eine Stiftung. »Wir wollen die Immobilien ja nicht geschenkt«, betont Werner, fügt aber an, man könne auch »nicht zahlen wie ein Luxusinvestor«. Wie realistisch die Idee ist, darüber gehen die Ansichten auseinander. Maik Kunze, der Rathauschef von Groitzsch, weist darauf hin, dass der Grundstücksmarkt im Leipziger Süden derzeit quasi durch die Decke geht. Die Region verspricht nach dem Ende des Kohlebergbaus dank der neuen Tagebauseen landschaftlich reizvoll zu werden. Zugleich platzt die benachbarte Großstadt aus allen Nähten; viele Leipziger zieht es ins Umland. »Hier werden für Häuser und Grundstücke gerade sehr hohe Preise aufgerufen«, sagt Kunze. Er erinnert auch daran, dass die Mibrag einst viel Geld investiert habe, um den zum Umzug entschlossenen Bewohnern von Pödelwitz ihre Häuser abzukaufen und ein neues Wohngebiet zu erschließen. Er könne den Wunsch des Vereins »verstehen«, die Häuser einer neuen Nutzung zuzuführen, sagt er - fügt aber an, er halte das für »nicht sehr realistisch«.

Die Mibrag hält sich bedeckt zur Frage, was sie mit den Pödelwitzer Häusern vorhat. Derzeit gebe es jedenfalls »keine Pläne zum Verkauf« der Grundstücke, erklärt Sprecher Sebastian Exner. Zudem seien »keine kurzfristigen Entscheidungen zu erwarten«. Das Unternehmen betont, ebenso wie der Groitzscher Bürgermeister, dass zunächst zu klären sei, wie das gesamte nicht mehr abgebaggerte Areal am Tagebau Schleenhain entwickelt werden solle: das sogenannte »Groitzscher Dreieck«, zu dem neben Pödelwitz auch ein weiteres Dorf namens Obertitz gehört. Dazu hätten Anrainerkommunen, Landkreis und regionaler Planungsverband unlängst ein Aktionsbündnis gegründet, sagt Rathauschef Kunze: »Wir wollen uns Gedanken machen, was aus dem Restloch und der Region darum herum wird.« Es gehe, betont die Mibrag, nicht um eine »solitäre Entscheidung, die allein Pödelwitz betrifft«. All das wird Zeit brauchen. Die Umsetzung der Pläne, sagt Bürgermeister Kunze, werde wohl noch bis »Ende des Jahrzehnts« dauern.

Für Jens Hausner ist das eine schlimme Vorstellung. Er wohne seit rund einem Jahrzehnt in einem verwaisten Ort »unter unerträglichen Zuständen«, wie er sagt. Dass Pödelwitz nun womöglich noch weitere Jahre in einem Dämmerzustand verbringen soll, findet er »verantwortungslos«. Der Verein »Pödelwitz hat Zukunft« weist darauf hin, dass die historischen Häuser weitere Jahre ungepflegten Leerstands nicht verkraften. »Die fallen in sich zusammen«, sagt Matthias Werner und fügt an, dann gebe es »kein Dorf Pödelwitz mehr« - sondern Grundstücke, auf denen schicke Villen am See errichtet und für horrende Preise verkauft werden könnten. Das sei womöglich, was der Mibrag vorschwebe. Ein Modellprojekt für den Strukturwandel sei es freilich mitnichten.

Der Verein und die verbliebenen Bewohner richten Hoffnungen nun auf die Politik. Die Koalition in Dresden »kann ja nicht sagen, der Koalitionsvertrag ist erfüllt, und gleichzeitig hängt Pödelwitz in der Luft«, sagt Werner. Hausner fordert eine Art Runden Tisch, um die jetzige Blockade aufzulösen. Das für den Strukturwandel zuständige Staatsministerium für Regionalentwicklung in Dresden regt auf Anfrage einen Vertrag zur künftigen Entwicklung an, analog zum sogenannten »Pödelwitz-Vertrag« aus dem Jahr 2012, der die Umsiedlung regelte. Dass die Politik dazu beitragen sollte, sieht man freilich nicht: »Die Mibrag als Eigentümer der Immobilien (ist) Ansprechpartner für potenzielle Vertragspartner«, heißt es aus dem Ministerium. Abgeordnete betonen, dass der Verkauf der Häuser in privatrechtlichen Verträgen geregelt sei, auf die man keinen Einfluss habe. Bei den Grünen, die so vehement für die Rettung von Pödelwitz kämpften, appelliert man nun an den Kohleförderer: »Es braucht jetzt die Unterstützung der Mibrag, damit das Dorf eine Zukunft hat«, sagt deren Landtagsabgeordnete Ines Kummer.

Jens Hausner dagegen will nicht, dass ausgerechnet jenes Unternehmen, das sein Dorf jahrelang in der Existenz bedrohte, dessen Wiederbelebung nun aufhält. Er bringt Artikel 14 des Grundgesetzes ins Spiel, in dem auch Enteignungen geregelt sind. Wenn sein Heimatdorf abgebaggert worden wäre, wäre er nach Bergrecht enteignet worden, sagt Hausner. Nun bleibt Pödelwitz stehen, und »da könnte man die Regelung zu Enteignungen ja mal umdrehen«: Diese seien, zitiert er den Grundgesetzartikel 14, »zum Wohle der Allgemeinheit zulässig«. In deren Interesse, findet er, sei aber ein lebendiges, wieder aufblühendes Dorfleben. Dass der Ort »zu Spekulationszwecken für Jahre weiter leer steht«, sagt Jens Hausner, »das ist ganz sicher nicht im Sinne des Gemeinwohls«.

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