Lob der Frau

»Parität jetzt!«, fordert Rita Süssmuth

»Ohnmächtig und ohne Ideen sind wir Frauen nie gewesen«, betont Rita Süssmuth. Um sodann ihre Kritik zu artikulieren: »Aber im hohen Maße ausgegrenzt von politischen Mandaten und Ämtern, unterschätzt und von Ideologien umstellt. Auch in Europa, das von seiner Namensgeberin her weiblich ist und eigentlich die Europa heißen müsste, wurden allzu lange unsere angeblichen Defizite thematisiert: zu emotional, zu wenig Distanz und Sachlichkeit, zu wenig Befähigung für das Politische.«

Angeblich, konstatiert die Grand Dame der bundesdeutschen Politik. »Denn in diesem beschämend falschen Bild fehlt die Beachtung der unersetzlichen Leistungen von Frauen auf allen Gebieten, vor allem in den Bereichen Sorge und Fürsorge, aber ganz besonders in den dunkeln Zeiten, als die Welt durch Kriege in Schutt und Asche gelegt worden war: Da haben Frauen die Gesellschaft am Leben erhalten, wenn die Männer weg waren, und Frauen haben das Land wieder aufgebaut, wenn ihre Männer traumatisiert, verwundet und oft apathisch zurückkehrten.«

Aber auch heute, in Zeiten der Pandemie, sind Frauen die gewichtigste und verlässlichste Stütze der Gesellschaft, allein durch ihren hohen Anteil im Gesundheitswesen und Pflegebereich, in Bildung, Erziehung sowie Sozialarbeit, den sogenannten Care-Berufen. »85 Prozent des Pflege- und Betreuungspersonals in Heimen und ambulanten Diensten sind nach der jüngsten Pflegestatistik (2019) weiblich«, schreibt Rita Süssmuth. »68 Prozent der Frauen in der Altenpflege arbeiteten in Teilzeit.« Nicht freiwillig (zumindest in den seltensten Fällen), sondern notgedrungen. Just auch coronabedingt haben Kitas beispielsweise verkürzte Öffnungszeiten. Und um Homeschooling abzusichern, waren es vor allem die Mütter, die kürzertreten mussten. Wer dankt es?

Applaus und schmeichelnde Worte kann sich die nach wie vor männerdominierte Politik schenken. Nein, den Dank, liebe Herren, brauchen wir nicht! Sage ich, als Ostdeutsche mit 18 Jahren selbstverständlich dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) beigetreten, zu deren Gründungsmitgliedern respektive Vorsitzenden die ehemaligen sozialdemokratischen und kommunistischen Widerstandskämpferinnen Käthe Kern und Maria Rentmeister sowie Else Lüders von der CDU gehörten. Ja, wir ostdeutschen Frauen haben bessere Zeiten erlebt. Auch wenn in der DDR nicht alles gut war, patriarchalische Strukturen teils fortlebten. Unbestreitbar aber war der ostdeutsche Staat in Frauenemanzipation, Frauenförderung und Frauengleichstellung dem westdeutschen meilenweit voraus. Das weiß und konzediert auch Rita Süssmuth.

Der Mauerfall habe Frauen »befreit und bedrängt«, schreibt sie. Vielleicht mehr bedrängt als befreit - nämlich von Arbeitslosigkeit, Abwicklung, Aberkennung von Leistungen. Rita Süssmuth schildert Eindrücke, Erfahrungen und Entdeckungen, die sie dank ihres Wahlkreises Göttingen nahe der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze machte, wertvoller als jede Bücherweisheit. »Uns Westdeutschen ging es zunächst darum, unser freiheitliches und soziales marktwirtschaftlich-demokratisches System nach Osten zu transferieren, bessere Lebensbedingungen zu schaffen, die Einheit Deutschlands nie wieder zu verlieren«, erinnert sich die langjährige CDU-Spitzenpolitikerin. Und gesteht frank und frei: »Wir meinten, unsere ostdeutschen Landsleute zu kennen, zu wissen, wie sie gelebt und was sie geleistet haben. Nein, so war es nicht.«

Rita Süssmuth würdigt die positiven Erfahrungen ostdeutscher Frauen hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Der Verlust der Erwerbsarbeit habe viele empfindlich getroffen. »1989/90 erlebte ich Frauen, die ihre Arbeitsplätze, ihre Maschinen nach vielen Jahren selbst abbauen mussten. Ich suchte sie auf, sollte sie beruhigen.« Heißt: ihnen versichern, dass neue Arbeitsplätze geschaffen würden. »Als ich die Tür öffnete und den Raum betrat, begegnete mir ein zugleich protestierendes und verzweifeltes Schreien. Ich blieb ... Ich stand am Ende des Raums, unwillkommen. Der Protest beruhigte sich erst nach einer halben Stunde, langsam. Dann begannen unsere Gespräche. Die Frauen waren verletzt, empört und perspektivlos ... Wir im Westen erwarteten primär Zufriedenheit und Dankbarkeit für den Wegfall verpflichtender Berufsarbeit. Wir wussten zu wenig von der Sozialisation der DDR-Frauen, ihren beruflichen Ausbildungswegen, ihrer ökonomischen Selbstständigkeit. Sie führten ein an Pflichten reiches Leben, standen aber auch auf eigenen Füßen, viel weniger abhängig vom Einkommen der Männer als im Westen.« Und es galt gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Allerdings, so muss hinzugefügt werden, arbeiteten Frauen vielfach in geringer bezahlten Berufen, etwa der Textilindustrie.

Anzweifeln möchte ich aber die Bemerkung von Rita Süssmuth, dass erfolgreiche Künstlerinnen in der DDR keine Selbstverständlichkeit gewesen seien, »weder auf dem Kunstmarkt, noch in den Museen ... Internationale Anerkennung wie ihre westdeutschen Kolleginnen erlangten nur die wenigsten.« Hm? Zweifellos recht hat die Autorin, dass in der DDR weder im Studium an den Kunstschulen noch im Berufsverband für bildende Künstler ein Unterschied zwischen den Geschlechtern gemacht wurde. Rita Süssmuth lobt die ostdeutschen Frauen, die sich aktiv in der Umbruchszeit 1989/90 einbrachten und auch nach dem Ende der DDR, bis heute engagiert unterwegs sind: »Frauen in Ostdeutschland zeigten auch jüngst großen Mut und große Eigeninitiative, als sie in Thüringen und Brandenburg politisch aktiv wurden und Paritätsgesetze auf den Weg brachten.«

Sie haben viel verloren, die Frauen in Ostdeutschland. Nicht nur Arbeit und Selbstständigkeit. Erniedrigend die Zwangsberatung vor Schwangerschaftsabbrüchen nach 1990. Auch nicht unwesentlich der Wegfall des monatlichen Haushaltstages oder der Vergünstigungen für studentische Mütter, ihre Diplomarbeit notfalls später als ihre Kommilitonen abgeben und ihr Baby früher Krippenbetreuung überantworten zu dürfen. Oder der Frauen bevorzugende Proporz bei der Immatrikulation, der Verteilung von Leitungsfunktionen in Betrieben, bei Aus- und Weiterbildung. Unvorstellbar für ostdeutsche Frauen, was ihren Geschlechtsgenossinnen in der Bundesrepublik bis in die 70er Jahre hinein zugemutet wurde: dass sie eine Genehmigung des Mannes benötigten, um einen Beruf zu ergreifen, ein Bankkonto zu eröffnen oder die Fahrerlaubnis zu machen. Ganz zu schweigen vom Abtreibungsparagrafen.

Rita Süssmuth, einstige Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit sowie Präsidentin des Deutschen Bundestages, die mutig mit Norbert Blüm und Heiner Geißler Kanzler Helmut Kohl, zu stürzen versucht hatte, bevor diesen der »Mantel der Geschichte« umwehte, verdient vollsten Respekt. Eine Kämpferin für Frauenrechte aus schweren Startpositionen heraus, die nach vorne schaut und sich nicht mit in den letzten drei Jahrzehnten gemachten Fortschritten zufrieden gibt. Sie weiß, es gibt noch viel zu tun. Trotz jährlicher Demonstrationen am Equal Pay Day hat sich hinsichtlich gleicher, gerechter Bezahlung nichts getan.

Rita Süssmuth ist zu danken, studiengestützt auch darauf zu verweisen, dass Frauen in Krisen und Konflikten die besseren »Manager« sind, nicht nur in Unternehmen, auch in der Politik. Durchaus ein gutes Beispiel hierfür: Angela Merkel. Frauen seien eher bereit, »die Sichtweise und Lage des anderen, des Gegners oder Verbündeten« zu berücksichtigen, seien »oft mehr an Lösungen orientiert als Männer«. Insofern sind sie geradezu prädestiniert, an den global notwendigen Veränderungen an maßgeblichen Positionen mitzuwirken. So Rita Süssmuth. D’accord.

Ein Vorzug ihres Buches ist es, sich nicht auf Frauenrechte allein zu fokussieren, sind diese doch untrennbar verbunden mit den großen Themen der Zeit, Klimawandel, Krieg und Frieden. Mütter und Kinder sind die ersten Opfer militärischer Konflikte, vergewaltigt, vertrieben, vom Gegnern als Geisel missbraucht. Rita Süssmuth fordert, dass sowohl das Schicksal von Frauen in Kriegsgebieten wie auch ihre Stimme in Friedensbewegungen und Friedensverhandlungen auf die Agenda internationaler Politik gehören. Wir erleben es just wieder im Krieg um die Ukraine: Den Verhandlungsmarathon bestreiten Männer. Doch welch weltweite Wirkung erzielte die Journalistin des russischen Staatsfernsehens, die während einer Nachrichtensendung ein Protestplakat hoch hielt! Ihr Name: Marina Ovsyannikova.

Rita Süssmuth blickt natürlich auch in die Geschichte zurück, würdigt den Durchbruch mit Frauenwahlrecht in der Geburtsstunde der Weimarer Republik, klagt den Rückfall in die Barbarei zur NS-Zeit an, skizziert das Ringen um Gleichberechtigung bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes, an der vier vergessene Frauen beteiligt waren (und doch ist noch immer oft nur von »Verfassungsvätern« die Rede): Helene Weber (CDU) und Helene Wessel (Zentrumspartei) sowie Elisabeth Selbert und Friederike Nadig, beide SPD, die sich gegen Widerstand auch in der eigenen Partei starkgemacht haben für die Aufnahme von Artikel 3 Abs. 2: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« Und streift schließlich die 68er Bewegung. - Von der Quote zur Parität, fordert Rita Süssmuth. Ein Appell, der alle und aller Unterstützung verdient.

Rita Süssmuth: Parität jetzt! Wider die Ungleichheit von Frauen und Männern. Eine Streitschrift. J. H. W. Dietz, 100 S., br.,16,80 €.

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