Nein, Programmieren ist keine Literatur

Philipp Schönthalers Studie »Die Automatisierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur«

  • Enno Stahl
  • Lesedauer: 5 Min.

Philipp Schönthalers groß angelegte Studie »Die Automatisierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur« ist ein schwerer Brocken. Sie wartet mit hohem Abstraktionsgrad auf, bei starker terminologischer Verdichtung. Teilweise lässt sich nicht bis ins Letzte entschlüsseln, was der Autor eigentlich sagen will.

Automatisierung heißt hier zweierlei. Erstens betrifft das die Instrumente des Schreibens, also die materielle Ebene, den Übergang von der Handschrift zur Schreibmaschine und schließlich zum Computer (die Produktion). Zweitens geht es Schönthaler um Automatisierungstendenzen im literarischen Schreiben (die Produktionsästhetik). Er zeigt, wie in den Experimenten der 1950er/1960er Jahre der Computer zum ausführenden Element der Texterstellung wird, Literatur wird auf Basis vorheriger Programmierung erzeugt.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Schönthaler wendet sich gegen die herrschende Vorstellung, eine solche automatisierte Literatur stehe in einer ungebrochenen Traditionslinie zum Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. Für ihn markiert das Aufkommen des Computers stattdessen einen fundamentalen Bruch, der »zu einem neuen Verständnis des Schreibens« führe.

Schönthaler durchschreitet in seiner Argumentation drei Großkapitel: Im ersten, »Die Mechanisierung der Hand«, beschreibt er Positionen der historischen Avantgarde, die das Schreiben als Technik inszeniert hatten. Es ist nicht mehr das, was man schreibt von Bedeutung gewesen, sondern wie.

Der futuristische Technik-Fetischismus von Filippo Tommaso Marinetti kommt ebenso zur Sprache wie Tristan Tzaras Anleitung zur Produktion eines dadaistischen Gedichts: Man werfe beliebige Wortschnipsel in einen Hut, ziehe daraus wie in einer Lotterie einzelne Begriffe und fertig ist die Literatur. Für einen derart mechanischen Zugriff auf Worte als papierenes Material wird der Zufall zur zentralen Schaffenskategorie. Die Worte werden mit Schere und Klebstoff weiterverarbeitet und nicht mit Inspiration. Dennoch bleibt der Zufall in Dadaismus wie Surrealismus an ein Dichterindividuum gebunden.

Das ändert sich mit dem Aufkommen computerisierter Literatur, man erwägt nun, »dass Literatur und Schreiben generell als zufallsbasierte Prozesse gedacht werden können, die unabhängig von einer auktorialen Instanz allein nach statistischen Gesetzmäßigkeiten quasi aus sich selbst heraus entstehen.«

Der Computer leite eine »Automatisierung des Geistes« ein, und so heißt dann auch Schönthalers zweites Kapitel, in dem er frühe computerproduzierte Arbeiten von Max Bense und anderen diskutiert. Dabei referiert er aber auch extensiv die Geschichte und Entwicklung der Informationstheorie und der Kybernetik.

Während im Dadaismus der Zufall eine Strategie gewesen war, um nach Adorno »Chaos in die Ordnung zu bringen«, ist er nun nach Maßgabe der Stochastik ein ordnungsstiftendes Programm. Worte werden nach algorithmischen Vorgaben zu Texten verknüpft, der Zufall setzt sie in Beziehung zum Ordnungssystem Literatur, produktionsästhetisch ist beides also genau gegenläufig konzipiert. Insbesondere Behavioristen gehen, so Schönthaler, bis heute davon aus, »dass die Materie algorithmisch organisiert sei«, also auch das menschliche Handeln. Noch scheitere die künstliche Intelligenz daran, »globale narrative Strukturen« zu entwickeln, aber das sei nur eine Frage der Zeit und der Rechnerkapazitäten.

Analog zu dem von Roland Barthes und Michel Foucault verkündeten »Tod des Autors« könnte man also eine Literatur erwarten, die keines menschlichen Dichtersubjekts mehr bedürfte. Gegen diese Tilgung des Subjekts jedoch wendet sich Schönthaler vehement.

Er zeigt an Autoren der Wiener Gruppe, vor allem an Oswald Wiener und Konrad Bayer, aber auch an James Joyce, Samuel Beckett, Gertrude Stein und Georges Perec, dass diese trotz aller sprachlichen Experimente nie ganz auf die Subjektivierung verzichtet haben. Ob Perec in »Anton Voyls Fortgang« einen Roman ohne »e« verfasst oder Beckett in »Watt« die Grammatik nach einer bestimmten Regel verfremdet, das Subjekt bildet immer »das Nervensystem der Verflechtungen«.

Gegen eine rein computerbasierte Literatur hält Schönthaler mit Oswald Wiener fest: »Die Automatisierung (...) schließt das Subjekt über formalisierbare Verkettungsregeln aus und verfehlt damit buchstäblich den Sinn von Literatur.« Zwar könne man durchaus Gedichte programmieren, »aber die Programmierung verfehlt die Aufgabe von Literatur«.

Schönthalers drittes Kapitel heißt »Automatisierung der Automatisierung«, in dem er die explosionsartige Entwicklung der Computerisierung nachzeichnet. Aber was passiert dann? Ganz allmählich verliert sich der Pfad der Argumentation und Wiederholungen treten auf. Mit viel Aufwand will Schönthaler den schon genannten Unterschied zwischen Algorithmus und literarischem Schreiben belegen, zwischen Programmieren und Schreiben und betonen, dass bei letzterem eben die Subjektivierung im Zentrum stehe. Das aber ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit.

Um sie zu erweisen, verarbeitet und katalogisiert Schönthaler Unmengen an Fachliteratur verschiedenster Themenbereiche - wozu, wird nicht immer klar. Ist Computerliteratur überhaupt so bedeutsam, ist die Existenz von Poesieprogrammen tatsächlich eine Gefahr? Man fragt sich, wo liegt die Brisanz in der Fragestellung, die diesen Aufwand rechtfertigt? Bislang gelingt es der »händisch« produzierten Literatur doch noch ganz gut, die Menschen zu erreichen.

Neben diesen inhaltlichen Einwänden stören einige formale Eigenheiten die Lektüre. Schönthaler verwendet das generische Femininum. Kann er ja machen, nur bisweilen produziert das irritierende Wendungen (»Für Tzaras Neukonzeption der Dichterin als Kopistin«). Da in den beschriebenen Avantgardezirkeln Frauen fast keine Rolle spielten, natürlich aus Gründen historischer Benachteiligung, wirkt das erzwungene Femininum beinahe schon geschichtsklitternd.

Außerdem pflegt Schönthaler einen ungemein apodiktischen Duktus, ich zeige hier, ich zeige dort ..., »erst der zweite Hauptsatz der Thermodynamik mit der Entropie als Gegenspielerin der Energie dämpft Ende des Jahrhunderts den Fortschrittsoptimismus und führt zur Entdeckung der Neurasthenie und Ermüdung.«

Und er erklärt jeden Schritt, den er unternimmt, immer wieder - das nimmt den Leser nicht an die Hand, sondern entmündigt ihn. Bitte lieber zeigen statt erzählen.

Philipp Schönthaler: Die Automatisierung des Schreibens & Gegenprogramme der Literatur. Matthes & Seitz, 575 S., geb., 38 €.

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