»Das Land steht auf der Kippe«

Friedensexperte Ekkehard Forberg über die humanitäre Krise in Afghanistan vor der UN-Geberkonferenz

  • Cyrus Salimi-Asl
  • Lesedauer: 4 Min.

Was erwarten Sie sich von der heutigen UN-Geberkonferenz angesichts der humanitären Krise in Afghanistan?

Der Aufruf, 4,4 Milliarden US-Dollar für den humanitären Response Plan für Afghanistan zu sammeln, ist der größte, den es je gegeben hat. Es werden dringend Finanzmittel gebraucht, um die humanitäre Katastrophe in Afghanistan einzudämmen. Abwenden kann man sie schon gar nicht mehr. Wir freuen uns, dass Deutschland diese Geberkonferenz mit ausrichtet, und erwarten, dass ausreichend finanzielle Mittel von der internationalen Gemeinschaft bereitgestellt werden, um die Notlage in Afghanistan abzufedern und die Hungerkrise, die jetzt unmittelbar droht, einzudämmen.

Ekkehard Forberg

Der Politikwissenschaftler Ekkehard Forberg ist bei der christlichen Hilfsorganisation World Vision Deutschland e. V. Experte für Friedensförderung, Klimawandel und humanitäre Anwaltschaftsarbeit.

World Vision setzt sich besonders für die am stärksten gefährdeten Kinder in Krisen- und Konfliktgebieten ein. In Afghanistan sind mehrere Hundert lokale Mitarbeiter tätig. Cyrus Salimi-Asl sprach mit Forberg über die Online-Geberkonferenz für Afghanistan, die von der Uno, Deutschland, Großbritannien und Katar organisiert wird.

Wie bedrohlich ist die Notlage?

Wir haben schlimme Zahlen, was den Hunger angeht. Alleine im Juli 2021 waren 14 Millionen Menschen dringend auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen; diese Zahl ist jetzt auf 23 Millionen gestiegen. Mehr als 4 Millionen Kinder unter fünf Jahren sind von akuter Unterernährung bedroht. Unsere mobilen Gesundheitsteams behandeln zurzeit doppelt so viele unterernährte Kinder wie noch vor einigen Monaten. Krankenhäuser sind nicht für alle Familien zugänglich, und es fehlt dort auch an Mitteln, um alle Kinder zu retten.

Der andere Punkt ist, dass Afghanistan vom Swift-Abkommen abgekoppelt ist. Für unsere Hilfe - wir sind vor allem in den westlichen Provinzen Herat, Ghor, Badghis und Faryab tätig - bekommen wir nicht genügend Finanzmittel ins Land. Die Bundesregierung hatte zunächst finanzielle Überweisungen nach Afghanistan geblockt. Nach langem Hin und Her hat sie diese Blockaden zum Teil aufgehoben; aber noch immer überweisen Banken nicht gerne nach Afghanistan, weil das natürlich ein Risiko darstellt. Und so bleibt es schwierig, Geld ins Land zu bringen. Wir sind im Prinzip auf das informelle Hawala-Finanzsystem angewiesen, aber das Auswärtige Amt genehmigt für neue Projekte kein Hawala mehr. Außerdem sind die Transferkosten sehr hoch.

Welche Auswirkungen hat das?

Das Land steht nicht nur wegen der Hungerkrise auf der Kippe, sondern auch weil die Menschen, gerade auf dem Land, nicht mehr an ihr Geld rankommen. Die Banken haben keine Finanzmittel mehr, weil die Dollar-Reserven der Nationalbank ja gesperrt sind. Zwölf Milliarden US-Dollar hätte die unabhängige Nationalbank eigentlich zur Verfügung; auch in Deutschland liegen solche Reserven der afghanischen Nationalbank. Wir als World Vision fordern, dass diese Nationalbankreserven dazu genutzt werden, die unabhängige Nationalbank von Afghanistan wieder zum Laufen zu bringen. Möglicherweise auch mit technischer Expertise durch die Bundesbank, damit die Bank gut arbeiten und ihre Unabhängigkeit gegenüber den Taliban bewahren kann.

Wie müsste das aussehen?

Das würde auch bedeuten, dass die Bundesregierung vor Ort präsent ist. Wir brauchen ein diplomatisches Engagement der Bundesregierung auf niederer Ebene. Dafür wäre ein Büro oder eine Mission vor Ort sehr wichtig. Wenn kein Geld ins Land kommt, leiden die Menschen, weil sie nicht an ihre Ersparnisse kommen. Die Banken sind zu, es gibt nur noch die Afghanistan International Bank.

Ohne ein funktionierendes Bankenwesen leidet die Wirtschaft, kommt nicht mehr auf die Füße. Es ist also wichtig, dass bei der Geberkonferenz zum einen die finanzielle Hilfe bereitgestellt wird für Nahrungsmittel, Gesundheit und Bildung und zum anderen Lösungen gefunden werden, um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen. Humanitäre Hilfe kann zwar viele Leben retten, wenn sie international mit großen Ressourcen ausgestattet wird, aber sie kann nicht alle Menschen vor Hunger bewahren und das Land nicht nachhaltig aus der Krise bringen.

Von dem 4,4-Milliarden-Ziel seien bisher erst 13 Prozent zugesichert worden, so die Uno. Das ist nicht viel. Haben Sie Hoffnung, dass der Rest zusammenkommt?

Ich habe wenig Hoffnung, dass diese 4,4 Milliarden zusammenkommen. Das hat damit zu tun, dass wir uns derzeit gleichzeitig um viele Krisen kümmern müssen. Der internationale Fokus liegt momentan so stark auf der Ukraine, dass die anderen Krisen in den Hintergrund zu geraten drohen.

Folgewirkungen des Krieges in der Ukraine, zum Beispiel mangelnde Nahrungsmittelbereitstellungen durch die Ukraine und Russland, die ein Drittel des Weizenexports weltweit abdecken, werden aber auch Afghanistan treffen, weil Dünger- und Weizenexporte nach Afghanistan dann in ausreichender Menge nicht mehr möglich sind. Die Folgen der Ukraine-Krise werden nicht nur sein, dass bei der Geberkonferenz weniger Mittel bereitgestellt werden, sondern auch, dass es Schwierigkeiten gibt, überhaupt genügend Nahrungsmittel zu haben, um die Menschen in Afghanistan vor noch größerem Hunger zu bewahren.

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