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Die Trennung vom Zopf

Gegen das Verschwinden der Vergangenheit: Notentitelblätter als Spiegel der Gesellschaft von 1894 bis 1937

  • Kevin Clarke
  • Lesedauer: 5 Min.
»Mädchen müssen mit …«: Cover der Noten des Liedes von Otto Stransky mit einem Text von Artur Rebner, 1922
»Mädchen müssen mit …«: Cover der Noten des Liedes von Otto Stransky mit einem Text von Artur Rebner, 1922

Evelin Förster ist eine Chansonsängerin und Vortragskünstlerin, die sich auch mit der Geschichte der Musik beschäftigt, mit der Exil-, Genealogie- und Provenienzforschung im Bereich Unterhaltungskultur. Ihre Untersuchung »Frau im Dunkeln«, die den vergessenen Komponistinnen und Textdichterinnen des frühen 20. Jahrhunderts gewidmet ist, wurde 2013 als Buch veröffentlicht. Es war ein feministischer Paukenschlag und ein Meilenstein.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Förster war auch Co-Kuratorin der Ausstellung »Berlin in der Revolution 1918/19« am Museum für Fotografie in Berlin, wo sie dafür sorgte, dass den historischen SchwarzWeiß-Fotografien vom politischen Umbruch farbenfrohe Notendeckblätter von populären Liedern jener Jahre gegenübergestellt wurden. Damit sollte gezeigt werden, wie sich das gegenseitig kommentiert: Friedrich Hollaenders »Fox Macabre« mit der Liedzeile »Berlin, dein Tänzer ist der Tod« beziehungsweise Chansons mit Titeln wie »Wohnungsnot« oder »Das Lied vom Streik«, beide aus einer Rudolf-Nelson-Revue. Diese Einbindung von Unterhaltung im Kontext einer Revolutionsausstellung war neu. Den sehr lohnenden Katalog kann man nach wie vor bestellen, er enthält Försters Essay »Die andere Seite der Revolution: Aspekte der Unterhaltungskultur«, in dem sie »Schönheitsballetts und Nackttänze« Straßenschlachten gegenüberstellt.

Für solche Ausstellungsprojekte sowie für ihre eigenen Chansonprogramme hat Förster schon in den 90er Jahren angefangen, Noten zu sammeln. Diese haben traditionell aufwendig gestaltete Titelseiten von großer grafischer Schönheit. Während der zwei langen Corona-Jahre hat Förster ihre umfangreiche Sammlung sortiert, die sie nun als eine Art Themenkatalog im Selbstverlag veröffentlicht, unter dem Titel: »Die Perlen der Cleopatra: Notentitelblätter von 1894 bis 1937 als Spiegel der Gesellschaft«.

Auf insgesamt 368 Seiten kann man die vielen Notenblätter in Vollfarbe bestaunen, die unter anderem den Wandel des Frauenbildes vom Kaiserreich bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges abbilden. Die Frauen, die man sieht, gaben »einen Ton an«, an ihnen orientierten sich junge und selbstbewusste Frauen, erklärt Förster im Gespräch mit dieser Zeitung. Heute seien es die Stars und Influencer, die über soziale Medien das modische Erscheinungsbild prägen, damals waren es Darstellungen auf Noten, die viele kauften, um zu Hause Musik zu machen. »Interessant ist, dass auch die Grafikerinnen (nicht nur die männlichen Kollegen) die Notentitelblätter sehr erotisch gestalteten, aber nie das Gefühl des Peinlichen aufkommen lassen«, meint Förster. »Die dargestellten Frauen wurden als Frauen ernst genommen!«

Den weiblichen Grafikerinnen hat Förster ihre besondere Aufmerksamkeit gewidmet, denn oft verbergen sie sich hinter Pseudonymen oder Kürzeln. Die Künstlerinnen, die Förster ausfindig machen konnte, sind: Ilse Wende-Lungershausen, Katerina (Käte) Wilczynski, Margot Gruenberg, SAGAI (eigentlich Emmy Sagai-Grimme) und Elisabeth Linge.

Sie schufen Bilderwelten von »neuen« Frauen, die nicht erst in den 1920er Jahren auftauchen. Helene Stöcker schreibt schon 1893 über »Die moderne Frau« und betont deren Recht auf finanzielle Unabhängigkeit und auf freie Berufswahl, um die Unabhängigkeit vom Mann und das Recht auf Liebe zu sichern.

Nach diesen Vorstellungen lebten um die Jahrhundertwende die Schriftstellerinnen Emmy Hennings, die auch auf den Cabaret-Bühnen arbeitete und 1916 in Zürich das Cabaret Voltaire mitbegründete, Franziska Gräfin zu Reventlow und Margarete Beutler. Vom »gesellschaftlichen Zopf« trennten sich avantgardistische Künstlerinnen um 1912, wie zum Beispiel Emmy Hennings oder die Puppenmacherin Lotte Pritzl: sie trugen Pagenschnitt und Hosen. Diese Entwicklung nahm in den 20er Jahren rasant an Fahrt auf. Das sieht man auf den Titelseiten vieler Lieder. Genau, wie man auch weitere Modeerscheinungen bemerkt, sei es Dada oder die Faszination für amerikanischen Jazz und afro-amerikanische Musiker.

In 14 Kapiteln erläutert Förster diese Entwicklungen, unter Überschriften wie »Liebe, Lust und Leben«, »Tanz und Vergnügen« oder »Die Nacht von Berlin«. Neben dem sich wandelnden Frauenbild geht es auch um die Veränderung der Männlichkeitsideale. Und um neue Partnerschaftskonstellationen. Man sieht Frauen mit zwei oder mehr Verehrern - aber man sieht sie auch innig umschlungen mit anderen Frauen. Außerdem auffallend: die Betonung von Androgynität, lange bevor Begriffe wie »non-binär« oder »trans« die gesellschaftspolitische Debatte erreichten.

Ihr Buch habe Förster gegen das »Verschwinden der Vergangenheit« geschrieben, sagt sie: »Damit meine ich ein Stück deutsche Kulturgeschichte, die im Verschwinden begriffen ist. Wie gerne wähnen wir uns in den 1920ern, lassen den Spirit von damals aufleben, meist nur oberflächlich und demzufolge fehlerhaft.« Das Buch korrigiert viele falsche Vorstellungen, unterfüttert den Ausflug in die deutsche Sozial- und Sittengeschichte mit Zitaten aus Benimmbüchern und anderen wenig bekannten Quellen. Man stolpert über prominente Namen wie den Textdichter Fritz Löhner-Beda, der in Auschwitz umkam, man begegnet neben Komponisten wie Nelson und Hollaender Musikern, die inzwischen vergessen sind und teilweise von den Nazis umgebracht wurden. Zur Künstlerauswahl gibt es am Ende des Buches Kurzbiografien.

Förster zeigt Bilderwelten, die verblüffend modern wirken und vielfach zum Schmunzeln anregen, auch zum Nachdenken. Denn wie ist das in der Abteilung zu »Reisen und ferne Länder«, wenn man da eine »Patrouille Orientale« sieht mit dem Titel »Allah Akbar«? Ist eine solche Darstellung der islamischen Welt rassistisch? Oder die »Chinesische Straßenparade« (1910) beziehungsweise der »Danse Chinoise« mit dem Titel »Peking Ta-Tao« (1914)? Evelin Förster überlässt es dem Leser, sich hierzu eine eigene Meinung zu bilden. Sie versteckt solche Bilder nicht, sondern präsentiert sie als Zeugnisse der Auseinandersetzung der Deutschen mit dem »Anderen«.

Übrigens: Försters Texte sind durchweg nicht gegendert. Was bei einer so überzeugten Frauenforscherin erstaunen mag. Förster sagt: »Gleichberechtigung kann nur durch politische Entscheidungen und Handlungen erreicht werden. Ich brauche kein Sternchen und kein Stottern in der Sprache. Ich weiß, wer ich bin und wodurch ich mich identifiziere: durch meine Arbeit und durch mich selbst.« Das ist ein Ansatz, der sich auch in vielen der Frauenporträts auf den Notentitelblättern von 1894 bis 1937 spiegelt.

Evelin Förster: Die Perlen der Cleopatra: Notentitelblätter von 1894 bis 1937 als Spiegel der Gesellschaft. Selbstverlag, 368 S., geb., 49,90 €.

Bestellbar bei: www.evelin-foerster.de

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