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Wenn nicht nur die Muskeln leiden

Zwei Radprofis lassen sich nach langen Pausen infolge mentaler Probleme beim Giro d’Italia auf ein Wagnis ein

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 6 Min.
Lennard Kämna spürte mentale Probleme, wenn er im Sport keinen Erfolg hatte. Eine einjährige Pause half ihm, damit besser umzugehen.
Lennard Kämna spürte mentale Probleme, wenn er im Sport keinen Erfolg hatte. Eine einjährige Pause half ihm, damit besser umzugehen.

Der 105. Giro d’Italia bietet einige Neuigkeiten. Zum ersten Mal findet der Start in Osteuropa statt. Ungewöhnlich ist auch der Beginn bereits an einem Freitag mit der Etappe von Budapest nach Visegrád. Ursache dafür ist der lange Transfer am Montag von Ungarn nach Sizilien zum Vulkan Ätna, für den ein extra Ruhetag eingeschoben wird. Das übliche Auftaktzeitfahren wurde von den Planern daher auch erst nach einer Flachetappe für den Samstag angesetzt.

Nur 26 Zeitfahrkilometer gibt es insgesamt bei der gesamten Tour, auch das ist überraschend wenig. Deshalb sind viele reine Kletterer wie der Kolumbianer Miguel Ángel López, der Ecuadorianer Richard Carapaz und der Brite Simon Yates am Start und eher wenige Profis, die über den Kampf gegen die Uhr ihre Minuten gutmachen.

Umso ungewöhnlicher ist es, dass der Rennstall Jumbo-Visma den früheren Zeitfahrweltmeister Tom Dumoulin als Kapitän ins Rennen schickt. Der Niederländer gewann zwar 2017 schon einmal den Giro, damals aber just wegen seiner Zeitfahrstärke. Dass er nun in Italien wieder eingesetzt wird, und nicht bei der Tour de France im Sommer, die einen für Zeitfahrer geeigneteren Parcours aufweist, dürfte damit zusammenhängen, dass die Teamleitung ihm nach der längeren Rennpause noch nicht die Qualitäten zutraut, den Slowenen Primož Roglič beim Sturm auf das Gelbe Trikot in Frankreich entscheidend unterstützen zu können. Und auch Dumoulin selbst ist sich unsicher, was seine Rennhärte betrifft: »Ich habe gut trainiert, die Form ist gut. Aber es handelt sich auch um einen Sprung in die Tiefe, einen Schritt ins Unbekannte«, sagte er vor dem Rennen.

Nur 19 Renntage hatte Dumoulin im gesamten Jahr 2021 bestritten. In einer normalen Saison kommt er auf 60 oder sogar 70. »Ich hatte in den letzten drei Jahren die Freude an den Rennen und an meinem Beruf verloren«, sagte er nun nach seinem Wiedereinstieg. »Ich hatte vergessen, was ich daran überhaupt mochte«, ergänzte er. Fünf Monate dauerte die Auszeit. Sein Team immerhin stand hinter ihm.

Ähnlich war die Situation bei Lennard Kämna. Auch der junge deutsche Profi vom Team Bora hansgrohe bat um eine Auszeit. Bei ihm dauerte sie sogar noch etwas länger als bei Dumoulin. Er beschrieb eine »fehlende innere Balance« als Ursache für anhaltende Unzufriedenheit: »Sobald es Schwierigkeiten im Sport gab, hatte ich Probleme, mir Befriedigung abseits des Sports zu holen. Ich habe es verpasst, mich für andere Dinge zu öffnen, andere Interessen zu entwickeln. Ich habe falsch gelebt«, sagte der Norddeutsche in einem Interview mit dem »Bremer Weserkurier«. Er verwies auf einen Teufelskreis, in den hoch ambitionierte Athletinnen und Athleten immer wieder geraten können: total fokussiertes Training mit einem Ringen um jedes Detail für eine Verbesserung auf der einen Seite und die innere Unzufriedenheit abseits der Trainings- und Wettkampfmaschine auf der anderen. »Die Ausschläge wurden immer größer«, berichtete Kämna.

Was genau er in seiner Auszeit machte, behält er für sich. »Dies ist privat«, sagt er Journalisten. Bekannt wurde lediglich, dass er sich mehr auf Freunde und Familie konzentrierte und seinen Segelschein erwarb. Die Freude am Radsport holte er sich dann im Oktober 2021 beim Mountainbike-Rennen Cap Epic in Südafrika zurück. Und auch bei seinem Wiedereinstieg in den Straßenradsport im Februar bei der Saudi Tour wirkte er gelöst. Er scherzte gegenüber »nd« sogar darüber, dass er große Erfahrungen mit Saudi-Arabien habe, weil ein Teil seiner Familie von dort käme. Alles geflunkert natürlich, aber Kämna war die Lust auf Radrennen und die damit verbundenen Reisen förmlich anzumerken.

Das schlug sich bald auch in den Ergebnissen nieder. Kämna gewann jeweils eine Bergetappe bei der Andalusien-Rundfahrt und der Tour of the Alps. Er geht also gut gerüstet in den Giro, auch wenn er formal zunächst vor allem Helferdienste für seine drei Kapitäne Emanuel Buchmann, Wilco Kelderman und Jai Hindley leisten soll. Es ist für ihn ein Wiederherantasten an größere Aufgaben. Sein früherer Bremer Trainer Siegfried Schreiber prognostizierte ihm in einem Podcast des WDR kurz vor dem Giro-Start sogar »den dritten Platz auf dem Podium der Tour de France 2024«. Kämna nahm die Prognose erfreut zur Kenntnis, wertete sie als Zeichen für Vertrauen seines Umfelds in ihn. Unter Druck setzen lassen will er sich davon aber nicht.

Ähnlich geht es momentan offensichtlich Tom Dumoulin. Auch er nutzte die Auszeit, um eine neue innere Stärke zu finden. »Die Zeit ohne Rennen war sehr lehrreich für mich. Ich weiß jetzt wieder, was für eine Art Rennfahrer ich bin«, sagte er.

In seine erste Grand Tour nach der Pause gehe er mit Vorfreude, aber auch mit Vorsicht. »Die Nominierung für den Giro ist ein Vertrauensvorschuss. Natürlich freue ich mich besonders auf das Zeitfahren. Es kommt mir auch vom Profil her entgegen. Aber wo ich genau stehe, ob es gar für einen Podiumsplatz reichen kann, weiß ich nicht«, gesteht er eine gewisse Unsicherheit.

Sein Team stellte ihn auch nicht als alleinigen Kapitän auf. Die ebenfalls kletterstarken Sam Oomen und Tobias Foss sind weitere Optionen auf gute Resultate der Mannschaft. Dumoulin, der in seiner ersten Karrierephase gern die erste Geige im Team spielte, sieht jetzt kein Problem darin, die Kapitänsrolle zu teilen, zumindest nicht nach außen. »Bei den ersten Bergetappen fahren wir einfach alle drei mit Vollkraft ins Ziel und ziehen dann Bilanz. Ich verstehe mich sehr gut mit Sam und Tobias und keiner von uns dreien hat ein Problem damit, alles für den zu tun, der dann am besten dasteht und die besten Karten in der Hand hält«, versicherte Dumoulin.

Für ihn stellt der Giro die Prüfung dar, ob er mit neu gewonnener Motivation noch einmal die alte Leistungsfähigkeit erreicht und ob die gut genug ist, um auch mit Fahrern mitzuhalten, die in der Zwischenzeit an der Spitze angelangt sind. Für Kämna geht es darum, weiter den neu gefundenen Weg des Aufbaus zu beschreiten, mit Freude am Rennen ein noch besserer Radsportler zu werden und auch die sicher kommenden Tiefschläge gut wegzustecken.

Beide Rennfahrer bereichern den Giro zudem um die für diesen Ausdauerprofisport recht neue Komponente, dass nicht nur Härte zu sich selbst gefragt ist, sondern auch die Sensibilität, das innere Gleichgewicht zu finden und auf seine mentale Gesundheit zu achten.

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