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  • Parlamentswahlen im Libanon

Wirtschaftskrise dominierte Wahlkampf

Libanesen sind unzufrieden mit der politischen Elite des Landes, viele wollen das Land verlassen

  • Karin Leukefeld, Beirut
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Wahlkampf im Libanon 2022 wird vor allem mit Debatten im Fernsehen und auf sozialen Medienkanälen und mit großen Plakaten geführt. Entlang der Straßen ist im Laufe der vergangenen Wochen geradezu ein Schilderwald entstanden. Auf den überdimensionalen Tafeln werben einzelne Kandidaten und Listen um die Gunst der Wähler. Bis auf die sunnitisch-muslimische Mustaqbal-Partei haben die traditionellen Parteien erneut Kandidaten aufgestellt, die vermutlich wieder ins Parlament einziehen werden.

Nach dem Rückzug des ehemaligen Ministerpräsidenten Saad Hariri aus der Politik und der Auflösung seiner Mustaqbal-Partei, befinden sich besonders die sunnitischen Muslime in einer schwierigen Situation. Eine Einigung kam nicht zustande, sodass deren Kandidaten auf verschiedenen Listen und für neue Parteien kandidieren. Davon versuchen die Libanesischen Kräfte von Samir Geagea zu profitieren, der als scharfer Kritiker der Hisbollah gilt und aus den Golfstaaten, Israel und den USA Unterstützung erhält.

Auch zivilgesellschaftliche Gruppen versuchen von der Schwäche des sunnitischen Blocks zu profitieren. Sie treten als »Unabhängige«, Sawa Lu Libnan, an oder als Liste für den Aufbau des Staates und werden mit Geld aus den arabischen Golfemiraten, Europa und den USA unterstützt. Schwerpunkt ihrer Mobilisierung ist vor allem die Forderung, dass die Hisbollah ihre Waffen abgeben soll. In dieser Frage ist der Libanon gespalten.

Das politische System im Libanon unterliegt dem konfessionellen Proporz, die politische Macht wird auf Christen, sunnitische und schiitische Muslime aufgeteilt. Kandidaten müssen in ihrer jeweiligen religiösen Gruppe antreten. Die Wähler und Wählerinnen geben eine Stimme für Listen ab und können mit einer Zweitstimme auch einzelne Kandidaten oder Kandidatinnen wählen.

Die Wahlen werden von einer Wahlkommission überwacht. Damit sollen der Kauf von Stimmen oder Einschüchterungen unterbunden werden. Die Europäische Union hat eigene Wahlbeobachter in den Libanon geschickt. Bei den letzten Wahlen 2018 lag die Wahlbeteiligung bei 49 Prozent. Dabei ging die libanesische Hisbollah mit einer verbündeten Allianz als Sieger hervor. Seitdem steht das Land vor schweren Herausforderungen. Die Hisbollah gilt in den USA und zahlreichen europäischen Staaten als »Terrororganisation«; Washington hat ein ganzes Bündel an einseitigen wirtschaftlichen und finanziellen Sanktionen gegen die Organisation verhängt.

Im Libanon hält sich die Begeisterung vor den Wahlen in Grenzen. Die wirtschaftlichen Probleme sind überwältigend, auf der Suche nach Arbeit haben Zehntausende Libanesen das Land seit Beginn der wirtschaftlichen Krise 2019 verlassen. Die politischen Eliten haben das Vertrauen der Libanesen verloren. Seit Jahrzehnten herrschen Misswirtschaft und Korruption auf Kosten der einfachen Bevölkerung. Es gibt keine regelmäßige und zuverlässige Stromversorgung durch die öffentlichen Elektrizitätswerke. Stattdessen müssen die Verbraucher – sofern sie es sich leisten können – die von Generatoren erzeugte Energie hinkaufen, die zu hohen Preisen angeboten wird. Auch Wasser muss dazugekauft werden. Das Bildungssystem ist ebenso wie der Gesundheitssektor komplett unterfinanziert; Lehrer und medizinisches Personal streiken, weil die Gehälter nicht mehr zum Lebensunterhalt reichen. Der Absturz der libanesischen Währung hat selbst die Mittelschicht an den Rand der Armut gebracht. Ganze Familien versuchen sich außerhalb des Landes eine neue Zukunft aufzubauen.

Für Mohammed T. aus dem Südlibanon, 23 Jahre alt, sind die Wahlen am kommenden Sonntag die ersten Wahlen überhaupt. Sein Vater habe ihm gesagt, er solle wählen gehen, aber er wisse es noch nicht so genau, räumt er ein. Für ihn sei vor allem gute Arbeit wichtig, und im Libanon könne er die als Computeringenieur nicht finden. Am liebsten wolle er das Land verlassen und am Golf arbeiten, doch seine Mutter wolle ihn nicht gehen lassen. »Alle meine Geschwister leben mit ihren Familien im Ausland, in Deutschland und in Kanada. Ich bin der Jüngste und werde wohl erst mal bei meinen Eltern bleiben.«

Der Angestellte Charbel M., gerät bei der Frage, wen er sich als Wahlsieger wünsche, ins Schwärmen. »Ich habe einen Traum«, sagt der Mittdreißiger. »Ich träume davon, dass ich am 16. Mai morgens aufwache und die Libanesischen Kräfte gewonnen haben. Dann wäre die Hisbollah weg, und Saudi-Arabien, Katar und die Emirate würden in den Libanon zurückkehren. Sie würden investieren, ihr Geld anlegen, und mit dem Libanon ginge es wieder aufwärts.« Der Libanon sei nur ein kleiner Staat, und alle hinterließen darin ihre Fußabdrücke, fährt der Angestellte fort. Er habe »keine Lust, in Kandahar zu leben«, das werde aber eintreten, sollte die Hisbollah nicht niedergerungen werden. Bleibe die Hisbollah stark, bleibe auch der Iran im Libanon, und das wäre das Ende für seine Heimat. »Dann nehme ich meine ganze Familie und gehe«, sagt er. Im Libanon sei für ihn dann kein Platz mehr.

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