Das Trauma einer Generation

Qian Julie Wang macht auf den lange ignorierten antiasiatischen Rassismus in den USA aufmerksam

  • Stefan Liebich
  • Lesedauer: 6 Min.
Armut und Angst überschatteten die Kindheit: Qian Julie Wang kam als Siebenjährige in die USA, wo sie Rassismus ausgesetzt war und ist.
Armut und Angst überschatteten die Kindheit: Qian Julie Wang kam als Siebenjährige in die USA, wo sie Rassismus ausgesetzt war und ist.

Wieder ist es passiert. Vor wenigen Tagen klagte die Staatsanwaltschaft in Manhattan einen 28-Jährigen an, der sieben asiatische US-Amerikanerinnen aus Hass angegriffen hatte. Vor einigen Wochen wurde die 35-jährige Christina Yuna Lee mitten in Chinatown getötet. Als ich zum Jahreswechsel für »nd« über den Amtsantritt des neuen Bürgermeisters Eric Adams und dessen Streit mit den Linken in seinem Stadtrat aus New York berichtete, wurde die 40-jährige Michelle Alyssa Go vor eine U-Bahn gestoßen. Polizei und Staatsanwaltschaft wollten prüfen, ob sie getötet wurde, weil sie Asiatin war. All diese Vorfälle bilden eine lange Reihe, und ihre Anzahl nimmt zu. Ich habe mich gefragt, ob das mit der Rhetorik des früheren Präsidenten Donald Trump über das angeblich »chinesische Virus« zusammenhängt.

»Vorurteile, Beleidigungen und Hass gegenüber der asiatischen Gemeinschaft in den USA gab es zwar schon zuvor«, erzählte mir die New Yorkerin Qian Julie Wang. »Aber er hat Grenzen verschoben. Und wenn der Präsident so redet, warum sollte das dann ein Fünftklässler gegenüber seinen Klassenkameraden nicht auch tun? Oder einfach jemand auf der Straße, gegenüber jemandem, der vorbeigeht?« Wang, deren Buch »Beautiful Country« (»Schönes Land«) ich gelesen hatte, erzählte mir, dass es in den USA lange Zeit hieß, dass Asiatinnen und Asiaten, anders als Schwarze, keine Diskriminierung erfahren würden, dass sie den gleichen Weg gehen könnten wie Weiße. So sei es gelungen, einen Keil zwischen die Communitys zu treiben. Dabei gäbe es bei allen Unterschieden vieles, was ähnlich ist. Unterdrückung, Ausbeutung, strukturelle Benachteiligung. Wang spricht vom Trauma einer Generation.

1942, während des Zweiten Weltkriegs, ließ Präsident Franklin D. Roosevelt 120 000 Menschen mit japanischen Wurzeln in Lagern internieren. Die meisten von ihnen lebten damals bereits in zweiter oder dritter Generation im Land. Die Angst vor der Wiederholung einer solchen – letztlich rassistischen – Politik sitzt tief.

Wangs Buch handelt vordergründig von der Kindheit der kleinen Qian Julie. Sie folgte als Siebenjährige mit ihrer Mutter dem Vater in die USA. Geboren wurde sie in der Stadt Shijiazhuang in der Volksrepublik China. Da die Familie keinen gültigen Aufenthaltsstatus in New York hatte, lebten sie als »Illegale«, immer in der Angst vor Entdeckung und Abschiebung. Die Mutter wurde in einem Sweatshop ausgebeutet, Qian Julie ging hungrig zur Schule. Und als wäre das nicht schlimm genug, war die Autorin von klein auf antiasiatischem Rassismus ausgesetzt.

Die Wahl Trumps im Jahr 2016 war für sie der letzte Anstoß für ihr Buch. Kurz zuvor wurde Qian Julie Wang endlich US-amerikanische Staatsbürgerin. Sie fand, es sei jetzt ihre Pflicht, aufzustehen und zu reden. Für all jene, die von diesem Rassisten verleumdet und verächtlich gemacht werden.

Der Gedanke, ihre Geschichte aufzuschreiben, war aber schon viel früher in ihr gereift. Als sie nach Amerika kam, wollte sie so schnell wie möglich Englisch lernen. Nicht nur, weil es im Allgemeinen Vorurteile gegenüber Menschen gibt, die die Landessprache nicht gut beherrschen. Für ihre Familie war es zudem ein echtes Risiko aufzufallen, und sie wollte sie nicht gefährden. Deshalb ging das junge Mädchen häufig in Bibliotheken, las viel und lernte so Englisch. Sie fühlte sich in der Umgebung von Büchern sicher und geborgen. Aber Menschen wie sie – aus Asien, aus China, »undokumentierte Migranten« – spielten in den Erzählungen keine Rolle. So träumte sie davon, selbst über ihre Geschichte zu schreiben. Damit später chinesische Mädchen wie sie, die dies lesen würden, sähen, dass mit ihnen alles in Ordnung ist.

Sie nennt ihr Buch »Beautiful Country«. Der Titel entspricht einem Namen für Amerika im Chinesischen. Aber ihre neue Heimat war alles andere als schön. Als sie auf dem Weg zur Arbeit – sie ist heute erfolgreiche Anwältin – in der New Yorker U-Bahn auf ihrem Telefon ihre Erinnerungen niederschrieb, begann sie zunächst mit den schönen Dingen. Den Büchern in den Bibliotheken, wie sie ihr Kätzchen bekam, wie es war, bestimmte Gerichte zum ersten Mal zu schmecken. Aber selbst das war mit Traurigkeit verbunden. Armut und Angst überschatteten ihre Kindheit. Und es gab Tage, an denen sie in der U-Bahn zu weinen begann. »Manchmal habe ich mehr geweint als geschrieben. Das tat weh. Aber dann war es draußen.«

Sie hat alles einfach runtergeschrieben und dachte nicht, dass es jemanden interessieren würde. Plötzlich waren es 300 Seiten. Eine Freundin überredete sie, den Text an Verlage zu schicken. Ihr Buch wurde im vergangenen Herbst ein »New York Times«-Bestseller. Die Autorin wird von Medien und zu Veranstaltungen eingeladen. Der frühere Präsident Barack Obama empfahl »Beautiful Country« als eines seiner Lieblingsbücher des vergangenen Jahres, obwohl Wang ihn schon auf der dritten Seite für seine Abschiebepolitik kritisiert hatte. Aber auch als erfolgreiche Autorin und Anwältin wird sie mit rassistischen Vorurteilen konfrontiert.

»Heute war eine dieser Buchvorstellungen, vor denen mich Autorinnen und Autoren, die nicht weiß sind, schon früh warnten«, begann sie einen Beitrag auf Twitter. Sie war wütend und verletzt, das spürte man sofort. »Trotz eindeutiger Hinweise auf meiner Website und von meinem Verlag, wie mein Name ausgesprochen wird, haben sie es nicht geschafft. Die Moderatorin versuchte es auf drei verschiedene Arten (Quinn, Kwang, Kian).«

Bei der Buchvorstellung, die Wang so traurig machte, war es nicht bei der falschen Aussprache geblieben. Ungefragt teilten ihr bei der Signierstunde Leserinnen mit, dass ihre Maniküre von Asiatinnen gemacht würde oder dass ihre Söhne mit asiatischen Frauen zusammen seien. Die Krönung war aber die Begegnung mit einer Frau, die ihr sagte, dass sie gar kein Interesse daran habe, ihr Buch zu lesen. Sie hat tatsächlich die ganze Zeit angestanden, nur um zu fragen: »Was habt ihr Illegalen zu meckern? Warum beschwert ihr euch immer über Amerika? Ihr habt doch Glück, dass ihr hier sein dürft.«

Ich habe sie gefragt, warum sie dieses Erlebnis öffentlich gemacht hat. »Alles, was ich dort beschreibe, ist mir bereits zuvor passiert, zum Beispiel bei Gerichtsverhandlungen oder anderen Vorstellungen meines Buchs. Aber noch nie alles auf einmal«, erzählte sie mir, immer noch verärgert. Sie denkt, dass die Leute Angst vor der demografischen Veränderung der USA haben. Viele befürchteten, dass sich ihre Art zu leben nicht aufrechterhalten lasse.

Die Ängste der weißen Mittelklasse sind real. Seit langem ist der amerikanische Traum ausgeträumt und das Aufstiegsversprechen gebrochen. Es ist alles andere als ausgemacht, dass es ihren Kindern einmal besser gehen wird. Aber statt die Wut gegen jene zu richten, die dafür Verantwortung tragen, gegen Milliardäre, deren Vermögen in der Pandemie immer weiter gewachsen sind, gegen Politikerinnen und Politiker, die weiter die Steuern für die Reichen niedrig halten, aber den Mindestlohn nicht erhöhen und die Studiengebühren nicht streichen, richten die Rechten in der Gesellschaft die Wut gegen Minderheiten.

Die Ermordung des schwarzen George Floyd durch den weißen Polizisten Derek Chauvin führte zu einer bis heute anhaltenden massiven »Black Lives Matter«-Bewegung. Und nach der Tötung des 84-jährigen Vicha Ratanapakdee in San Francisco und von Mitarbeiterinnen eines Massagesalons in Atlanta war auch die »Stop Asian Hate«-Bewegung geboren. Qian Julie Wang sagt dazu: »Wir sind sind lauter geworden. Wir lassen uns nicht mehr unterdrücken.«

Qian Julie Wang: Beautiful Country. A Memoir of an Undocumented Childhood. Penguin Books, 320 S., br.
Der ehemalige Linke-Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich ist Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York City.

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