Prunk des leeren Raums

Auszug aus gesicherten Zonen war ihm das eigentliche Leben. Das Theatergenie Peter Brook ist gestorben

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Fülle entwürdigt, also streif sie ab. Geh weg, wenn du ankommen möchtest. Verschwinde, wenn du dir endlich erscheinen willst. Such die Wüste, damit der Durst gestillt werden kann. Peter Brook ist weggegangen, er ging in die Wüste. In die Unwirtlichkeit, in die wahre Wirklichkeit. Er hat den leeren Raum in einen Palast des Reichtums verwandelt. Und zwar dort, wo Paris sehr brüchig und schmutzig ist, in den Bouffes-du-Nord.

Durch den Theatermagier Brook erfuhr just jener Prunk, den die Bühnenbetreiber meist so süchtig beschwören, eine neue Definition: Prunk kommt einzig aus Fantasie, mit der die Darsteller und Zuschauer gleichermaßen spielen. Brooks Theater lebte fast ohne Requisiten, und es wurde getragen von einem internationalen Ensemble, das auf bezwingend freundliche Weise den Unterschied veranschaulichte zwischen plakativ verkommener Internationalismuspose und wirklicher Neugier aufs Fremde.

Zum Beispiel Shakespeares »Hamlet«: Was ich in Paris sah – und mehrmals sehen musste! –, das waren jeweils zweieinhalb Stunden Konzentrations- und Reduktionskunst. Nur sieben Schauspieler und ein Musiker auf rotem Teppich, mehr nicht. Die Welt war ganz Erzählung, auf ihr lastete kein Gedanke der Bedeutsamkeit. Alles rein und zeitlos und karg – umso erschreckender konnte aufscheinen, was Macht und Rache und Liebe aus den Menschen machen. Hörten wir wirklich auf solche Märchen, wie sie Brook erzählte, wir wären wahrlich weiser! 

»Theater der Recherche« nannte er seine Praxis, und so entkam er uns Verankerten, uns Festgelegten, uns Haltegurtlern, uns Wegweisergläubigen und Belehrungssüchtigen. Immer milder und versöhnlicher schien sein Werk zu werden, weil es nichts mehr festschrieb, sondern unentwegt suchte.

Besagter »Hamlet«: Die sieben Darsteller schuhlos, sie kamen auf leisen Sohlen herein. Man sah’s und konnte sich plötzlich nicht mehr vorstellen, diese Leute hätten je Schuhe an den Füßen getragen. Zwischen die Szenen waren Texte von Artaud, Brecht, Gordon Craig, Meyerhold, Stanislawski und Zeami Motokiyo gesetzt. Aber was den Anschein einer vordergründigen Brechung, gleichsam einer Studie perfekter Verfremdung hatte, geriet bei Brook eben nicht zur berüchtigten Lehrstunde, sondern zu einem lichtvollen Vorgang faszinierender Harmonie. Körper, Stimmen und Bewegungen flossen zusammen, formten sich zu einem Bild, so wie ineinanderfließende Farben in Wasser. Einfach schön. Eine Auswahl aus der Vielfalt, also musste Vielfalt erst mal gedacht, gefühlt worden sein. Blanke, offenliegende Weisheit: Theater wird nicht gespielt, sondern erfunden – indem Menschen einander anschauen, miteinander reden, einander zuhören. Sinnentherapie.

Könnte so schön nicht auch das Leben sein? Nein, kann und wird es nicht. Deshalb bleibt die Kunst unsterblich. Brooks wichtigstes Buch, »Der leere Raum«, beginnt mit dem Gedanken, Kunst könne niemals ein dauerhaftes Verständnis bewirken. »Der wahre Wert der Kunst liegt nicht in dem, was sie ist, sondern in dem, was sie andeutet.« Wäre das als Erkenntnis doch Allgemeingut! Du, Machtverwalter, herrschst nur andeutungsweise. Aber du, Oppositioneller, hast auch nur andeutungsweise recht. Lebe, indem du dich darin übst, relativ zu sein. Hol dir aus dieser Traurigkeit das strahlendste Selbstbewusstsein. Und du, Kritiker, geh nicht in einen Brecht, nur weil du dich bestätigen möchtest; und lüg uns nicht vor, schon eine durchsichtige Gesellschaftskritik hielte dich wach.

Man mochte manchmal fast lächeln über die Verschrobenheit des Weißhaarigen, über seine ungebrochene Art, Naivität zu behaupten. Brooks Inszenierungen lächelten dann einfach mit, sie schauten aufs Leben und machten einfach das, was nur Kinder können: Sie haben nichts in den Händen und erschaffen spielend eine Welt. Denn sie können Bauklötze – staunen. 

Noch einmal »Hamlet«: der schwarze Adrian Lester, eine Titelgestalt von faszinierender Jungenhaftigkeit; die Fechtszene Hamlet/Laertes: schneidend scharf, von asiatischer Schnellkraft; dazu eine Totengräberszene großartigster Heiterkeit – indem ein Totenschädel auf einem Stecken, durch ein paar Drehungen dieses Stabs, zum lebendigen Gesprächspartner wurde.

Brooks Weggang aus der bürgerlichen Etabliertheit war Reaktion auf einen Überdruss. Für diesen Regisseur war Stadttheater ein Kerker geworden und Repertoire nur ein anderes Wort für Todesurteil. Brook aber wollte leben. Nach Jahren im gängigen Betrieb zog er also ins arabische Viertel von Paris, erschuf in verrußtem, ja verruchtem Ambiente seine seltsamen Spiele, die eine Weltberühmtheit wurden. Theater blieb nicht mehr nur Interpretation, sondern steigerte sich zu einer Art zu träumen. Ohne Zwang eines Konzepts. Der 1925 in London geborene Sohn russischer Emigranten hatte als Chef der Royal Shakespeare Company gearbeitet, sein Theater provozierte mit Härte, war ein Aufschrei gegen den Wahnsinn der Zeit aus rohem Kapitalismus und vietnamkriegerischer Gewalt.

Als das Schreien Konvention und die Gewalt zur Umgangsform wurde und sich ’68 nannte, schreckte Brook auf, als habe er geahnt, was die bis heute wirkende Krux der Kommunisten ist: Sie sind eine starke Kraft des Protests, aber sie sind keine Kraft der Hoffnung, wenn es um demokratische Strukturen geht. Brook scherte aus, ihn entsetzte jede ideologische Dogmatik, aber auch »deren kehrseitige Entsprechung, die kapitalistische Verwertungsmaschinerie«.

Im Grunde erinnert Brook an das, was Erich Fried in die Verse fasste: »Noch einmal sprechen / vom Glück der Hoffnung auf Glück / damit doch einige fragen: / Was war das / wann kommt es wieder?« Lärmlos verabschiedete er sich von den gestellten Szenen des Theaters, zog mit Darstellern mehrerer Kontinente – ein Theater ohne feste Engagements – durch seine selbstgeschaffene impressive Welt, in der fremde Kulturen einander befragten. Und dies lange bevor Politiker das Multikulturelle wie Kaugummi fadbissen. 

In Afrika, Asien, Europa hat er gespielt, in Oasen der Wüste, auf Märkten, in Zeltdörfern, auf Nomadenrastplätzen, auf Bahnhöfen, in Güterhallen, in Flüchtlingslagern, an Autostraßen, unter Brücken, in Trümmern, auf Sportplätzen. Völkerwanderung war ihm Heimat. Auszug aus gesicherten Zonen war ihm das eigentliche Leben.

Der große Konstantin Stanislawski wünschte sich einst, eine »Inszenierung ganz ohne Inszenierung« zu schaffen. Was das sein könnte, war bei Brook zu sehen. Kein Schwert, kein Bühnenbildgerümpel, kein Geschrei, kein gequälter Monolog, keine schwermütige Weltsinnbrüterei. Stattdessen jede Interpretationslast genommen; gesprengt die lederne Haut aus schwergewichtigen Deutungen, eine Schicht über der anderen. Nicht die Darsteller trieben sich selbst in die Figuren hinein; nein, von allem Mythos befreit, strebten die Figuren zu den Darstellern hin, als hätten sie endlich jemanden gefunden, der lebt. Alle Fragen wurden ohne Fragezeichen gestellt. Alle Leichtigkeit kam aus Fragen, die nicht formuliert wurden – die uns im Saal aber dennoch erreichten, trafen, berührten und die Antworten provozierten. Neue Fragen. Die alten unvergänglichen Fragen. Antworten? Nicht wirklich.

In Zeiten der Flüchtlingskrisen ist er ein Fluchtgenie gewesen. Draußen ganz daheim – und auf diese Weise so frappierend tief im Wesentlichen. Manchmal, wir wissen das aus der Geschichte, ist Dissidenz der letzte Ausweg, wenn man kein wirkliches Talent hat. Manchmal ist der Ausstieg also das letzte Aufmerksamkeitssignal, wenn man den Einstieg nicht schafft, geschweige denn den Aufstieg. So wandelt man denn eifrig die Not zur Tugend. 

Brook aber stieg aus im Zenit, im Erfolgsglanz, mitten im größten Umworbensein. Er warf hin, für den kühnen Entwurf. Er gab viel auf. Für eine Aufgabe aus schönster Hingabe. Er war ein Meister, dem wohl nur ein Schüler sein konnte, wer zu lernen versuchte, ohne alles begreifen zu wollen. Nun ist Peter Brook im Alter von 97 Jahren in Paris gestorben.

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