Integrative Gedenkstunde

Der Bundestag wird im kommenden Jahr erstmals explizit der queeren NS-Opfer gedenken

  • Johanna Montanari
  • Lesedauer: 4 Min.
NS-Opfer: Integrative Gedenkstunde

Am 27. Januar gedenkt der Bundestag jährlich der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee im Jahr 1945. Dabei standen unterschiedliche Opfergruppen bereits im Mittelpunkt. Homosexuelle beziehungsweise queere Menschen waren jedoch nie darunter. Im kommenden Jahr soll sich das ändern. Das hat das Präsidium des Bundestags einstimmig beschlossen. Es reagierte damit auf die Forderung einer Petition von 2018. Der Historiker und Autor Lutz van Dijk hatte diese Petition initiiert. »Wir sind froh, dass Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und ihr Präsidium nun unser Anliegen zu ihrem gemacht hat«, sagt er dem »nd«.

Bei der ersten Gedenkstunde 1996 nannte der damalige Bundespräsident Roman Herzog auch Homosexuelle als Opfergruppe nationalsozialistischer Verfolgung. Dass es trotzdem so lange gedauert hat, homosexueller beziehungsweise queerer Opfer zu gedenken, erklärt Henny Engels vom Lesben- und Schwulenverband (LSVD) mit einem »gesellschaftlichen Klima«, das bestimmte Opfergruppen nicht gern wahrnehmen wollte. Das sei »zutiefst ungerecht« gewesen.

Die Petition und ihre Umsetzung seien der »Erfolg eines breiten Bündnisses von engagierten Menschen, darunter auch der LSVD«, so Lutz van Dijk. Nicht nur die betroffenen sexuellen Minderheiten hätten sich für die Umsetzung eingesetzt, sondern auch Personen aus anderen Opfergruppen wie »jüdischen Organisationen und denen von Roma und Sinti, aus Kirchen, Gewerkschaften und politischen Parteien«. Außerdem hätten sich Historiker*innen aus Deutschland und anderen Ländern, zum Beispiel Polen, für das Gedenken eingesetzt. In ihrer Heimat sind sie weniger erfolgreich. Die Regierung in Warschau betreibt weiter eine homophobe Politik, und bis heute werden die vom NS-Regime ermordeten Homosexuellen in der Gedenkstätte Auschwitz ignoriert.

Wichtig ist für van Dijk auch die internationale Signalwirkung. Er verweist darauf, dass in zwölf Ländern weiterhin die Todesstrafe gegen Homosexuelle verhängt werden kann. »Wir vertrauen darauf, dass es 2023 eine integrative Gedenkstunde im Bundestag geben wird, die vielen Menschen in Deutschland neue Einsichten ermöglicht und auch in anderen Ländern, wo dies noch unvorstellbar ist, Ermutigung sein kann«, so van Dijk.

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) schreibt dem »nd« auf Anfrage, dass sie das Anliegen aus voller Überzeugung unterstützt habe. »Sexuelle Minderheiten wurden zwar bisher in Aufzählungen mit anderen Opfergruppen am Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus genannt. Es ist aber überfällig, deutlich zu machen, dass sie nicht nur mitgemeint, sondern auch aktiv gesehen werden.« Sie spricht ein Problem an, das sich für das Gedenken ergibt. »Da heute leider kein queerer Mensch mehr lebt, der Opfer der Nazis wurde, klären wir in Abstimmung auch mit dem Lesben- und Schwulenverband Deutschlands, wer für die queeren NS-Opfer im Bundestag reden kann«, so Göring-Eckardt.

Ihre Amtskollegin Petra Pau nennt die Entscheidung »ein wichtiges und längst überfälliges Signal«. Die Linke-Politikerin hatte sich bereits in den vergangenen Legislaturperioden dafür eingesetzt, dass dieser Opfergruppe gedacht wird. »Umso mehr freut es mich, dass es in der aktuellen Legislatur dem gesamten Bundestagspräsidium eine Herzensangelegenheit war und der Beschluss einstimmig gefasst wurde«, sagt Pau.

Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, äußert sich enthusiastisch: »Jahrelang haben LGBTIQ-Organisationen dafür gekämpft, dass der Bundestag an die queeren Opfer der NS-Diktatur erinnert. Dafür habe auch ich mich in den letzten Jahren zusammen mit der Grünen-Bundestagsfraktion immer wieder beim Bundestagspräsidium eingesetzt.« Das Gedenken sei »ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der deutschen Geschichte und der demokratischen Gedenkkultur«, konstatiert der Grünen-Politiker.

Einige Schwierigkeiten macht allerdings das Wording. Soll im kommenden Jahr der homosexuellen oder der queeren Opfer gedacht werden? Henny Engels sagt dem »nd«, dass der LSVD in seiner Pressemitteilung zum Beschluss des Bundestagspräsidiums beide Begriffe genutzt habe. Während der NS-Zeit seien nur homosexuelle Männer strafrechtlich verfolgt worden. »Lesbische Frauen sind nach anderen Kriterien verfolgt worden, als Asoziale oder als Verrückte, weil der Paragraf 175 für Frauen nicht galt«, erklärt Engels. »Heute reden wir von queer, weil wir den Blick geweitet haben und heute auch gesellschaftlich mehr wahrnehmen.«

Es gebe zu diesem ganzen Thema großen Forschungsbedarf. Zur Situation von inter- und transgeschlechtlichen Menschen im Nationalsozialismus sei besonders wenig bekannt. Sie sei jedoch zuversichtlich, dass beim Gedenken im Januar 2023 die »queere Perspektive in der ganzen Bandbreite« genannt wird.

Auch der Bundesverband Trans begrüßt die Entscheidung des Bundestagspräsidiums. In Bezug auf die Aussage der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) im »Tagesspiegel«, es würden die Opfer in Mittelpunkt gestellt, »die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität« im NS-Staat verfolgt wurden, teilt der Verband mit: »Trans* Personen werden hier richtigerweise sehr konkret mitgedacht, denn auch sie wurden im NS-Staat verfolgt, inhaftiert und ermordet.«

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