• Kultur
  • Literaturbeilage zur Frankfurter Buchmesse

Äpfel im Aufstand

Wie die paradiesische Frucht der Agrarindustrie trotzen kann

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Als unpolitisch gilt vielen Menschen der Apfel. Was man nicht von jeder Frucht behaupten kann. Anderseits ist der Apfel für unseren Kulturkreis wahrlich existenziell. Adam und Eva lebten im Paradies, bis die Schlange sie verführte, die verbotene Frucht zu essen. Die Geschichte endet bekanntlich übel: Gott vertreibt das Paar wegen Ungehorsams. Im Bibeltext wurde später aus der Frucht ein Apfel. Apfel heißt im Lateinischen »mālum«, und das klingt ganz ähnlich wie »mălum«, was Übel heißt.

Auf die Idee mit dem Apfel sollen Theologen zu Beginn des 5. Jahrhunderts gekommen sein. Dabei ist jener alles andere als von Übel. Er ist seit Langem eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Frucht in den gemäßigten Klimazonen der Erde. Zum Glück: Menschen können selbst kein Vitamin C bilden, ein unter Säugetieren seltener Mangel. Der Apfel ist außerordentlich reich an diesem Vitamin, und er kann – fast ein Alleinstellungsmerkmal – auch über einen strengen Winter gelagert oder leicht über große Entfernungen transportiert werden. Selbst vollständige Trocknung beeinträchtigt den Nährwert kaum. Und bittere, fast ungenießbare Äpfel werden durch schnelles Trocknen genießbar, können in dieser Form gut gelagert und befördert werden und sind gleichzeitig unempfindlich gegen Kälte, Schädlinge und Krankheiten.

Pfahlbauten in der Schweiz liefern Hinweise darauf, dass bereits der übel schmeckende europäische Wildapfel so behandelt wurde, um ihn genießbar zu machen. Seine Lager- und Transportfähigkeit machten den Apfel dann zu einem Gegenstand der Globalisierung. Schon in vorchristlichen Pfahlbauten fanden Archäologen Hinweise auf internationale Handelsbeziehungen, die bis nach Afrika und Asien reichten.

Und die Geschichte des Apfels ist noch länger. Vor etwa 1,75 Millionen Jahren begannen sich Gletscher in West- und Mitteleuropa auszudehnen. Der Tian Shan, ein Gebirge in Zentralasien, war jedoch nie vergletschert. Dort sollen die Ur-Äpfel gewachsen sein. Und dort wurde von Menschen das Pferd, ein Tier der Steppen, domestiziert. Diese Entwicklung förderte entscheidend die Ausbreitung des Apfels. Denn anders als beim Kamel, das beim Kauen und während der Verdauung die Samen zerstört, passiert ein Apfelkern das Verdauungssystem eines Pferdes unbeschädigt und wird in einem fruchtbaren Wachstumsmedium abgelagert. So begann der süße Apfel des Tian Shan in den Pferdeäpfeln nach Westen zu wandern.

Die geografische Isolation des Tian Shan und ein intensiver Selektionsdruck führten zu einer immensen Variabilität in der Apfelpopulation – jeder Apfelbaum im Tian Shan ist ein kleines bisschen anders als die anderen, aber viele tragen süße Äpfel. Heute ist der Kulturapfel – anders als beispielsweise die kernlose Banane – immer noch in der Lage, sich in dieser ungewöhnlichen Variabilität zu regenerieren. Daher finden es die britischen Pflanzenforscher Barrie Juniper und David Mabberley nicht erstaunlich, dass »domestizierte Äpfel in den letzten acht Jahrhunderten keine signifikante Abnahme der genetischen Diversität zeigten«.

Damit unterscheidet sich der Apfel von fast allen wirtschaftlich wichtigen Getreidesorten und Hülsenfrüchten, vielen Obstsorten und anderen Nutz- und Zierpflanzen. Deren Saatgutproduktion wurde der Kontrolle des Erzeugers weitgehend entzogen, beklagen Juniper und Mabberley. Für Landwirte und Gärtner ist es daher kaum noch möglich, Saatgut für eine neue Aussaat aus dem eigenen Anbau zu erhalten. »Eine Kombination aus Grüner Revolution, agro-industrieller Kontrolle durch gentechnische Veränderungen und bürokratischem Zwang sorgt dafür, dass die genetische Basis unserer Lebensmittel immer mehr eingeschränkt wird.«

Widerstand dagegen leistet von Natur aus unser Apfel. Die Kulturgeschichte desselben ist ein reich illustriertes Werk. Wenngleich es sich stellenweise ein wenig holprig liest, dürfte es mit seiner bunten Vielfalt jeden neugierigen Apfelfreund erfreuen.

In den Supermärkten der Welt sind inzwischen aus wirtschaftlichen Gründen vermutlich weniger als 50 Apfelsorten zu finden. Doch wachsen in den Obstgärten verlassener Gehöfte, entlang alter Bahntrassen, in Gebüschen, an Felshängen und auf Biobauernhöfen Apfelbäume unbekannter Abstammung, die sich selbst »versamt« haben. Mit einfachen Methoden, die die bronzezeitlichen Landwirte im Tal von Tigris und Euphrat vor Tausenden Jahren entwickelten, können diese neuen Genotypen in alle vier Himmelsrichtungen verbreitet werden. Die paradiesischen Sämlinge des Apfels entziehen sich so der Kontrolle durch den globalen Handel, dem Druck von EU-Behörden und den kommerziellen Strategien in den Vorstandsetagen der Agrarindustrie.

Barrie E. Juniper/David J. Mabberley: Die Geschichte des Apfels. Von der Wildfrucht
zum Kulturgut. A. d. Engl. Claudia Huber. Haupt-Verlag, 288 S., geb., 38 €.

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