»Nahe der Front wird am meisten Hilfe benötigt«

Die Initiative Cars of Hope unterstützt auch dann Menschen in der Ukraine, wenn es Nichtregierungsorganisationen zu gefährlich wird

Über befreundete Gruppen aus Kiew hat die Initiative Cars of Hope Verbindungen in die Ostukraine aufbauen können, wo der Krieg am heftigsten wütet und die Menschen auf Hilfslieferungen angewiesen sind.
Über befreundete Gruppen aus Kiew hat die Initiative Cars of Hope Verbindungen in die Ostukraine aufbauen können, wo der Krieg am heftigsten wütet und die Menschen auf Hilfslieferungen angewiesen sind.

Sie sind erst kürzlich mit der Initiative Cars of Hope (Autos der Hoffnung) aus der Ukraine zurückgekehrt und waren jetzt zum fünften Mal dort. Wen unterstützen Sie dort?

Interview

Die Wuppertaler Initiative Cars of Hope unterstützt bereits seit Jahren Geflüchtete auf der Balkanroute. Als im Februar der Krieg in der Ukraine ausgebrochen ist, weitete sie ihre Hilfe in dem überfallenen Land aus. René Schuijlenburg von der Initiative berichtet von den zahlreichen Fahrten dorthin, die nicht ungefährlich sind. Er erzählt von dringend benötigten Hilfsgütern, die sie den Menschen nahe der Front bringen, und von Wünschen der Menschen, die dem Krieg ausgesetzt sind. Mit ihm sprach Sebastian Weiermann.

In der Ukraine helfen wir befreundeten Gruppen, deren Mitglieder uns nahestehen und die wir als Genoss*innen ansehen, aber auch Menschen, die an der Front leben. Wir arbeiten eng mit Gruppen aus Kiew zusammen, die an diese Orte gehen.

Ihre Initiative hat bislang vor allem Geflüchtete auf der Balkanroute unterstützt. Woher kam der Impuls, in die Ukraine zu gehen?

Einige von uns arbeiten auch in anderen Initiativen, und da gab es immer schon Vernetzungen in verschiedene Länder, auch in Osteuropa. Wir haben dann Anfragen von Leuten bekommen, die wir schon kannten, ob wir sie konkret unterstützen können. Dann haben wir uns getroffen und besprochen, wie wir helfen können. Woraufhin wir entschieden haben, da erst einmal hinzufahren und zu schauen, wie die Situation vor Ort ist. Dann haben wir beschlossen, eine kontinuierliche Versorgungslinie aufzubauen, ähnlich wie wir das auf der Balkanroute getan haben.

Mit welchen Gruppen arbeiten Sie in Kiew zusammen?

Das sind selbstorganisierte Strukturen, die aus dem autonomen und anarchistischen Spektrum kommen. Mit der Gruppe »Help War Victims« (Kriegsopfern helfen) waren wir kürzlich an der Front.

Welchen gesellschaftlichen Stellenwert hat diese undogmatische Linke in der Ukraine?

Besonders groß ist die Bewegung nicht. Sie steht auch seit Jahren unter Druck, weil es viele organisierte Faschist*innen in der Ukraine gibt, mit denen es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen kommt. Aber es gibt auch viele Geflüchtete aus Belarus und Russland, unter ihnen queere Menschen, die in Kiew relativ frei und ungestört leben konnten, im Vergleich zu den Ländern, aus denen sie kommen. Viele dieser Menschen haben nach dem Beginn des Kriegs am 24. Februar beschlossen, dass sie nicht nochmal flüchten wollen. Einige haben sich auch dazu entschieden, gegen die russische Armee bewaffnet zu kämpfen.

Wie sieht die Arbeit von Cars of Hope konkret aus? Welche Hilfsgüter bringen Sie in die Ukraine?

Wir liefern viel medizinisches Material, Medikamente, aber zum Beispiel auch Tourniquets (Abbindesysteme) oder Mittel zur Versorgung von Brandwunden. Das alles können wir in Deutschland relativ einfach besorgen, aber in der Ukraine oder in Polen ist das mittlerweile schwierig geworden. Eine Zeitlang haben wir auch viele Kanister mit Diesel mitgebracht, weil es in der Ukraine schwierig war, an Treibstoff zu kommen. Jetzt, wo immer häufiger die Energieinfrastruktur bombardiert wird, ist es wichtig, kleine Powerstations, Powerbanks und Kerzen zu liefern. Insbesondere in der Nähe der Front mangelt es bei den Menschen an fast allem. Denn viele Nichtregierungsorganisationen nähern sich der Kampflinie nur auf 20 bis 30 Kilometer Entfernung.

Sie waren Anfang Oktober im Osten des Landes relativ nahe an der Front. Was haben Sie dort erlebt?

Mir war die Situation nicht ganz neu. Ich habe schon im Kosovo-Krieg ähnliche Erfahrungen gemacht. Damals habe ich mit anderen zusammen Menschen aus dem Kampfgebiet evakuiert. Aber trotz dieser Erfahrung erschreckt man sich natürlich schon, wenn die Einschläge auf einmal näher kommen. Wir waren in Kupjansk, das ist im Oblast Charkiw, und man hörte, dass der Beschuss näher kam. Aber wir reagierten alle sehr besonnen und sind ruhig geblieben, haben unsere Arbeit noch zu Ende gemacht und uns dann in Ruhe zurückgezogen. Es ist wichtig, dass man in solchen Momenten seine Ängste kontrollieren kann.

Was waren die eindrücklichsten Erfahrungen in der Nähe der Front?

Für mich war es sehr schwierig, als wir ein Kinderkrankenhaus in Charkiw waren. Da habe ich die Tür aufgemacht, und das erste, was ich sah, waren zwei kleine Kinder, die behandelt wurden. Die kommen aus den besetzten Gebieten, und man hat leere, traurige Augen gesehen.

Sie haben gerade gesagt, dass viele Nichtregierungsorganisationen nicht so nah an die Kampfgebiete gehen, weil es ihnen offenbar zu gefährlich ist. Warum machen Sie das trotzdem?

Weil wir gesehen haben, dass in unmittelbarer Nähe zur Front die Not am größten ist und am meisten Hilfe und Unterstützung benötigt wird. Man merkt zum Beispiel alleine an den Begegnungen dort, wie wichtig es auch für die Menschen ist, dass sie überhaupt jemand anders sehen außer dem Militär und den Nachbarn, die nicht geflohen sind. Alleine unsere Präsenz ist wichtig für die Menschen, damit sie merken, dass sie nicht vergessen werden. Bei unserer letzten Tour hatte uns eine ältere Frau gerade um ein Herzmedikament gebeten, als der Beschuss näher kam. Eine ukrainische Genossin hat das Medikament dann im Wagen gesucht und die Dame gleichzeitig beruhigt. Sie hat ihr gesagt, dass wir so lange bleiben, bis wir ihr Medikament gefunden haben.

Wie bereiten Sie sich auf die Fahrten vor?

Wir reden viel miteinander, sprechen über unsere Grenzen, wer bereit ist, was zu machen. Außerdem haben wir an Workshops zu Erster Hilfe in Kriegsgebieten teilgenommen, in denen erklärt wird, wie man zum Beispiel Schusswunden versorgt oder was zu tun ist, wenn jemand Phosphorpartikel auf der Haut hat. Es ist wichtig, sich im schlimmsten Fall gegenseitig helfen zu können. Notwendig sind auch die Besprechungen nach unseren Einsätzen in gefährlichen Gebieten. Damit beginnt die Verarbeitung des Erlebten.

Welche Haltung zum Krieg haben die ukrainischen Gruppen, mit denen sie zusammenarbeiten?

Sie sehen ihn als einen Angriffskrieg. Ihnen geht es da weniger um den ukrainischen Staat, von dem sie auch nicht viel halten. Von dem erwarten sie eine Repressionswelle spätestens mit Ende des Krieges. Aber sie wollen die Art, wie sie leben, die Freiräume, die sie sich erkämpft haben, verteidigen. Und sie wissen von den russischen und belarussischen Genoss*innen, die in Kiew leben, dass sie so unter russischer Besatzung definitiv nicht mehr leben könnten. Das gilt auch insgesamt für die Bevölkerung, die in der Ukraine deutlich mehr Möglichkeiten hat, ihr Leben selbst zu gestalten, als in Belarus oder Russland. Unsere russischen und belarussischen Genoss*innen erzählen oft von ihrem Wunsch, dass auch das System Putin in Russland und das System Lukaschenko in Belarus kippt, wenn Russland den Krieg nicht gewinnt.

Sie haben unmittelbare Erfahrungen mit dem Krieg in der Ukraine gemacht. Hat das Ihren Blick auf die Diskussionen innerhalb der deutschen Linken verändert?

Wie sich große Teile der deutschen Linken verhalten, ist schon ein Trauerspiel. Oft wird gesagt, der Ukraine-Krieg sei ein Stellvertreterkrieg zwischen der Nato und Russland. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Leute noch im Kalten Krieg leben und gar nicht merken, was sich geopolitisch alles in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Dabei wird zum Beispiel vollkommen übergangen, dass Russland lange Zeit durch die Gaslieferungen mit Nord Stream 1 mehr Geld aus dem Westen bekommen hat, als die Ukraine aus dem Westen unterstützt wurde. Öl- oder Uranimporte aus Russland sind Beispiele dafür. Im Kalten Krieg hätten die Nato-Staaten niemals einen solchen Handel betrieben, sie hätten niemals monatlich solche Summen in die Sowjetunion gepumpt.

Halten Sie manche Ansichten von deutschen Linken für realitätsfern?

Ja. Geradezu aberwitzig ist es dann, wenn über den kapitalistischen Westen gesprochen wird, als ob Russland kein kapitalistischer Staat wäre, als ob das immer noch die alte Sowjetunion wäre. Ich würde sogar die Behauptung aufstellen, dass der Kapitalismus in großen Teilen der EU nicht so krasse Auswüchse erlebt wie in Russland, wo es ja tatsächlich einen Wildwest-Kapitalismus gibt und Konzerne kaum reguliert werden. Wenn nun ein Land mit einer sehr völkischen Ideologie wie Russland ein anderes Land überfällt, dann ist es mein erster Impuls, dass ich mit den Leuten vor Ort reden möchte, die von der Aggression betroffen sind. Ich denke, von zu Hause auf der Couch lässt sich die Situation nicht so gut beurteilen.

Wie nehmen Ihre befreundeten Gruppen in der Ukraine die Positionierungen in der westlichen Linken wahr?

Viele sind geschockt und fragen sich: Was geht bei euch? Dieser Mangel an Empathie für die Angegriffenen und die mangelnde Kenntnis der Situation vor Ort stoßen ihnen schon bitter auf.

Der Winter naht, und die Angriffe auf die kritische Infrastruktur in der Ukraine nehmen zu. Wie sehen Ihre Planungen für die kommenden Monate aus? Werden Sie weiterhin helfen?

Wir machen weiter und sammeln in Deutschland Spenden. Wir haben kürzlich erfahren, als wir in einem ukrainischen Krankenhaus waren, dass es vor allem an Decken fehlt. Andere Gegenstände, die benötigt werden, sind Allesbrenner, also kleine Öfen, um einzelne Räume zu heizen, oder Stromaggregate und Stromspeicher. Weil in vielen Häusern in der Ukraine mit Strom geheizt wird, ist das jetzt besonders wichtig. Auch die Medikamente und medizinischen Materialien, die wir bisher sammeln, werden weiterhin gebraucht. Wir planen, weiterhin einmal im Monat in die Ukraine zu fahren.

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