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Das große Jein!

Vom Lehrstück- zum Zeitgeisttheater: Alexander Eisenach hat sein Stück »Die Vielleichtsager« am Berliner Ensemble zur Uraufführung gebracht

Mal wieder ganz schön unentschlossen: Peter Moltzen, Malick Bauer und Lili Epply sind die Vielleichtsager am Berliner Ensemble.
Mal wieder ganz schön unentschlossen: Peter Moltzen, Malick Bauer und Lili Epply sind die Vielleichtsager am Berliner Ensemble.

Malick Bauer eröffnet die erste Szene auf der Bühne des Neuen Hauses, der Nebenspielstätte des Berliner Ensembles, am vergangenen Freitagabend. Fast bis zur Unkenntlichkeit verfremdet, singt er mit enervierender Stimme Variationen eines vertrauten Textes: »Wichtig zu lernen vor allem ist Einverständnis / Viele sagen ja, und doch ist da kein Einverständnis / Viele werden nicht gefragt, und viele / Sind einverstanden mit Falschem. Darum: / Wichtig zu lernen ist Einverständnis.« Das sind nicht die Verse des Autor-Regisseurs Alexander Eisenach, der die Uraufführung seines eigenen Stücks »Die Vielleichtsager« verantwortet, sondern die Zeilen stammen von einem gewissen Bertolt Brecht.

Zweifellos gehört jenes Kapitel zu den spannendsten der neueren Theatergeschichte. 1928 hatte Brecht mit der »Dreigroschenoper« einen Welterfolg erzielt. Nun setzte er nicht an, einen solchen Bühnenhit einfach zu wiederholen. Ernsthaft daran interessiert, den Möglichkeitsraum der darstellenden Künste ganz auszuschreiten, widmete er sich künstlerischen Experimenten – und entwickelte das Lehrstück. Vom Genre der Schuloper sowie vom Laientheater inspiriert, entwarf er ein Theater, das ohne Publikum auskommen sollte, weil es die Spielenden selbst zu Lernenden machte, in dem sie Haltungen ausprobierten.

1930 stieß Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann den Theatermann auf das japanische Nō-Stück »Tanikō« aus dem 15. Jahrhundert, das sie aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hatte. Mit Kurt Weill knüpfte Brecht an vorherige Arbeitserfahrungen an. Und die richtigen Spieler fand er an der Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln, einer außergewöhnlichen reformpädagogischen Einrichtung jener Zeit, an der auch Brechts »marxistischer Lehrer« Karl Korsch Unterricht gab.

Sein Stück »Der Jasager« folgte einer einfachen Anordnung. Die Mutter eines Jungen erkrankt schwer. Als er erfährt, dass sein Lehrer in die Berge aufbrechen würde, um Unterweisung und Medizin bei den größten Ärtzten zu holen, will er ihn begleiten. Den Bedenken des Lehrers zum Trotz schließt der Junge sich an. Als er dann auf der Reise selbst erkrankt, soll er von seinen Begleitern, gemäß dem Brauch, in das Tal gestürzt werden – nicht ohne ihn um sein Einverständnis zu bitten.

Die Karl-Marx-Schüler haben das Lehrstückmodell ernst genommen und sich diskursiv mit dem Stoff beschäftigt. Ihr Protest führte schließlich dazu, dass der Autor einen »Neinsager« schrieb. Der Satz »Wer a sagt, der muss nicht b sagen. Er kann auch erkennen, dass a falsch war«, der an zentraler Stelle in dem Text vorkommt, hat es in den allgemeinen Sprachgebrauch geschafft. Besieht man Brechts knappe szenische Versuche, wird schnell klar, dass es hier um die großen Fragen geht: um das Individuum und um das Kollektiv, um Freiheit und Notwendigkeit, um Gewalt und Opfer.

Es ist verdienstvoll, dass das Berliner Ensemble bei seiner, mitunter auch desparaten, Art und Weise, das Brecht-Erbe zu pflegen, dessen Lehrstückphase nicht ausklammert. Von einem Spiel ohne Publikum kann selbstredend an dem ausverkauften Premierenabend nicht die Rede sein. Und letztlich ist es auch kein Brecht-Stück, das hier auf die Bühne gebracht wird, sondern ein Gedankenexperiment sehr, sehr frei nach Brecht.

Im ersten Teil dieser knapp 80-minütigen Inszenierung haben wir es, erwartungsgemäß, mit einem Jasager zu tun. Die abstrakt wirkenden Umstände, die Brecht aus dem »Tanikō« übernahm, finden bei Eisenach eine Konkretisierung. Wir befinden uns im Jahr 2022, die Expedition, angeführt von dem Wissenschaftler Dr. Rimski, soll zu einem geothermischen Riss im Gebirge führen. Verbunden mit der Reise ist die Hoffnung, so auch Erkenntnisse über alternative Energiequellen zu gewinnen. Als einer der Reisenden erkrankt, erklärt er sich einverstanden damit, dass sein Leben geopfert wird – für die Rettung der Menschheit. Durchaus klug sind am Ende die Sätze zu vernehmen: »Noch sind wir nicht bereit, mit eigener Hand den Tod auszuteilen. / Noch steht die Ware zwischen uns und dem Opfer am anderen Ende der Wertschöpfungskette.«

Es folgt die Geschichte eines Neinsagers. Genau ein Jahrhundert später soll der Mars besiedelt werden. Nicht die Erkrankung, sondern ein allgemeines Hadern lässt einen der Expediteure zweifeln. Sein Nein führt schließlich zur Umkehr. Gerade war die Erde noch unbewohnbar, schon ist der Status quo selbst seine eigene beste Alternative.

Schließlich – der Zuschauer ahnt es schon – haben wir es mit einem Vielleichtsager im Jahr 2222 zu tun. Wir leben in einer Zeit, in der die planwirtschaftliche Verteilungsökonomie die »Grundlage des friedlichen Zusammenlebens aller Menschen, Tiere, Pflanzen und Mikroben« ist. Auf einer Expedition zu den Riesenkraken, um mit ihnen über Schürfrechte zu verhandeln, macht auch dieses Mal die große Entscheidung erforderlich. Als wären wir im Selbstfindungsseminar, wird uns empfohlen, die Perspektive zu wechseln. Kein Ja, kein Nein, nur ein endlos ermüdendes Sowohl-als-auch.

Eisenachs Versuch, den Brecht’schen Text in eine andere Zeit zu übersetzen, muss scheitern. Die Frage nach alternativer Energiegewinnung in Zeiten der Knappheit, der Marsbesiedelung angesichts der Klimakatastrophe und schließlich der Verteilungsgerechtigkeit sollten uns alle beschäftigen. Aber szenisch konsequent durchdacht sind sie nicht. Bei Brecht ist es die Krankheit der Mutter, die den Knaben veranlasst, sich der Expedition anzuschließen. Hier nun führt das eigene Erkranken zu der Einsicht (oder auch nicht), dass Bei Eisenach werden die Zusammenhänge ausgespart. Sie weichen ein paar läppischen Witzeleien.

Übergroße Paravents, mit japanischen Grafiken illustriert, gemahnen an die Vorvorlage von »Die Vielleichtsager« (Bühne: Daniel Wollenzin). Dahinter sind auf einem Banner die Texte von »Der Jasager« und »Der Neinsager« zu lesen. Durch die Drehbühne – alles eine Frage der Perspektive! – wird uns abermals verdeutlicht, dass wir es hier mit Varianten derselben Situation zu tun haben. Drei Spieler, Lili Epply, Malick Bauer und Peter Moltzen, wechseln hierzu jedes Mal die Rollen. Niklas Kraft und Sven Michelson sorgen dabei für die musikalische Verstärkung. Weder Schauspiel noch Musik vermögen es aber über diesen Abend zu tragen.

Warum eigentlich braucht es diese Vielleichtsager, wenn Brecht schon einen Jasager und einen Neinsager zu Wort kommen lassen hat? Das weiß man auch nach der Vorstellung nicht. Der Verdacht setzt sich fest, dass jeder Vielleicht- nur ein verkappter Neinsager ist. Dass Eisenach diese Einsicht ausblendet zugunsten eines vermeintlich rund inszenierten Abends, ist bedauerlich. Was uns hier vor Augen geführt wird, ist nur ein pseudodemokratisches »Alle haben Recht«. Hier ist alles nur Stimmung, nur Gefühl, nur Befindlichkeit. Wäre »Die Vielleichtsager« zumindest eine Kritik dieses dominanten Missverständnisses, könnte man der Inszenierung möglicherweise etwas abgewinnen. Aber davon kann nicht die Rede sein, und man wähnt sich in einer vergangenen Zeit, in der man sich ganz postmodern an der unbegreiflichen Welt, die niemanden zu Konsequenz verpflichtet, erfreuen durfte. Das menschliche Überleben ist in dieser Weltsicht keine existenzielle Frage mehr, sondern nur ein lästiges Narrativ, das sich auch durch ein beliebiges anderes ersetzen lässt. Und somit ist der szenische aufgebaute Popanz dieses Abends dann leider nur eins: die Beerdigung der Politik mit den Mitteln des Theaters.

Nächste Vorstellungen: 12., 13.11. und 3.12.
www.berliner-ensemble.de

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