Hohe Kosten, zu wenig Nutzen

AOK-Institut mit Bericht zu Fehlentwicklungen in der Arzneimittelversorgung

Die gesetzlichen Krankenkassen geben weiterhin viel Geld für Arzneimittel aus. Nach den Kosten für die Versorgung in Krankenhäusern bilden die Medikamente den zweitgrößten Posten bei den Ausgaben. Der Nettobetrag ist im Jahr 2021 um 8,8 Prozent auf 50,2 Milliarden Euro gestiegen. Bei der Vorstellung des neuen Arzneimittelkompasses, erarbeitet im Wissenschaftlichen Institut der AOK (Wido), am Donnerstag in Berlin wurden diese Zahlen an den Anfang gestellt. Der jährlich erscheinende Sammelband widmet sich unter anderem der Frage, welcher Umgang insbesondere mit hochpreisigen Arzneimitteln angemessen wäre.

Überdurchschnittliche Umsatzsteigerungen fielen wie in den Vorjahren in drei Bereichen auf: Patentgeschützte Arzneimittel legten um 14,4 Prozent zu. Der erwirtschaftete Umsatz allein im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) stieg auf 27,5 Milliarden Euro. Also wurde auch 2021 wieder mehr als jeder zweite Euro der Arzneimittekosten in diesem Bereich ausgegeben. Steht ein Medikament unter Patentschutz, heißt das, dass es noch nicht lange verfügbar ist und eigentlich einen größeren Nutzen für die Patienten haben sollte als Pillen, die bereits patentfrei sind und geringere Kosten verursachen. Aber das ist leider nicht immer der Fall. Gemessen an verordneten Tagesdosen entfielen nur 6,5 Prozent der Versorgung auf die moderneren Mittel – das Segment trägt also nur wenig zur Versorgung bei.

Der nächste Umsatztreiber sind Medikamente zur Behandlung seltener Erkrankungen, die sogenannten Orphan Drugs. Für die GKV machen diese Präparate 13 Prozent aller Medikamentenausgaben aus. Der Anteil an den Verordnungen ist marginal: Es sind gerade einmal 0,07 Prozent der Tagesdosen auf Rezept. Eine tägliche Behandlung kostet durchschnittlich 213 Euro. Bei allen übrigen Medikamenten beträgt dieser Wert im Durchschnitt nur 94 Cent. Besonders ärgerlich ist der hohe Preis deshalb, weil für mehr als zwei Drittel der Patientengruppen, die Orphan Drugs verschrieben bekommen, gar kein oder nur ein nicht quantifizierbarer Zusatznutzen erreicht wird.

Für die Hersteller ist die Zulassung dieser Präparate durchaus lohnend. In der jüngsten Gesetzgebung wurde aber die Umsatzschwelle, nach der Orphan Drugs ihren Sonderstatus einbüßen, von 50 auf 30 Millionen Euro abgesenkt. Angesichts der dennoch bestehenden »Nutzenfiktion« fordert Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung beim AOK-Bundesverband: »Die Zeit ist reif, die Ausnahmeregelungen für Orphan Drugs endlich abzuschaffen und die Versorgungsqualität damit zu verbessern.«

Zu einer hochwertigen Arzneimittelversorgung gehören aber nicht nur angemessene Preise. Gleichzeitig muss es in Sachen Qualität darum gehen, unnötige und gefährliche Medikationen zu vermeiden. Hier hat sich der aktuelle Arzneimittelkompass die Verordnungsdaten älterer Menschen genauer angesehen. Das heikle Thema heißt Polypharmazie: Davon ist die Rede, wenn Menschen fünf oder mehr verschiedene Medikamente pro Tag einnehmen. Eine solche Praxis ist in Deutschland nicht selten, weil insbesondere viele Ältere mehrere chronische Krankheiten haben. Im Alter wird Polypharmazie auch einmal noch riskanter, weil die Nebenwirkungsrate, unter anderem durch langsamere Verstoffwechslung, höher wird.

Die Pharmazeutin Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke ist Mitherausgeberin des Arzneimittelkompasses 2022. Sie weist auf weiter steigende Anteile von Patienten ab einem Alter von 65 Jahren hin, die viele Medikamente einnehmen. Waren es im Jahr 2012 in dieser Gruppe im Mittel noch 3,9 verschiedene Mittel, wurden 2021 bereits 4,4 erreicht. Die bloße Zahl verbirgt aber, dass es noch ein spezielles Problem für ältere Patienten gibt. Medizinern ist schon länger aufgefallen, dass bestimmte Medikament der Gruppe eher nicht mehr verordnet werden sollten. So ließen sich etwa Risiken für eine Krankenhauseinweisung vermeiden.

Zum Schutz der über 65-Jährigen gibt es Listen, die diese Medikationen aufführen. Eine davon ist die Priscus-Liste, die gerade aktualisiert wurde. So erhielt zuletzt knapp die Hälfte der 16,4 Milliarden älteren GKV-Versicherten mindestens eines der potenziell unangemessenen Medikamente verordnet. Daraus ergibt sich nicht nur eine mögliche Gesundheitsgefährdung.

»Hinzu kommt, dass die den Leitlinien zugrunde liegenden Studien multimorbide und gebrechliche Patientinnen meist ausschließen, so dass auch die Evidenz für den Nutzen in dieser Population nicht gesichert ist«, erläutert Thürmann. Die erneuerte Priscus-Liste will das Wido demnächst kostenfrei zur Verfügung stellen, damit diese speziellen Informationen möglichst bekannt werden, vor allem unter Ärzten.

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