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Arbeitsalltag auf verbranntem Boden

In der Gedenkstätte KZ Ravensbrück müssen die Mitarbeiter mit der Belastung leben

  • Nina Süßmilch
  • Lesedauer: 7 Min.
Geister der Vergangenheit: In einer Gedenkstätte wie dem KZ Ravensbrück zu arbeiten, kann schwer belasten.
Geister der Vergangenheit: In einer Gedenkstätte wie dem KZ Ravensbrück zu arbeiten, kann schwer belasten.

Die Gedenkstätte KZ Ravensbrück liegt etwas nördlich von Berlin. Der Regionalexpress fährt eine Stunde bis Fürstenberg an der Havel, zum Ort des ehemaligen Frauen-Konzentrationslagers. Der kleine Ort am Schwedtsee liegt gegenüber dem ehemaligen Lager Ravensbrück. Der Name steht symbolisch neben vielen anderen für den Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte. Das Lagergelände, auf dem über 140 000 Menschen – überwiegend Frauen – gefangen gehalten und gefoltert wurden, ist einer der vielen Orte der Shoa. Mehr 28 000 Menschen wurden hier ermordet.

Seit 1959 versucht man das Lager als Gedenkstätte zu gestalten, es in seiner historischen Dimension zu begreifen, von dem Ort zu lernen. Seither hat sich die Gedenkstätte kontinuierlich weiterentwickelt und ist heute eine Bildungsstätte, die den Besucher*innen viel Erfahrungsraum gibt. Nicht nur Bildmaterial und ehemalige Zellen kann man sehen. Es gibt auch unterschiedliche Bildungsangebote, mehrtägige Workshops und Projekte. Auch der Kontext des Lagerlebens wird beispielsweise mit dem sogenannten Führerhaus gezeigt. So nannte man die Villen für SS-Offiziere und ihre Familien, die in unmittelbarer Nähe zum Lager lebten.

Die Mitarbeiterinnen der Gedenkstätte arbeiten auf verbranntem Boden und beschäftigen sich täglich mit den Beweisen schlimmster Grausamkeit. Dabei ist es eine große pädagogische Leistung, wenn Schülerinnen vor Ort heute den Raum bekommen, sich auszudrücken und das Gesehene zu verarbeiten. Auf Augenhöhe wolle man den Jugendlichen begegnen, hebt der Leiter der Bildungsstätte Matthias Heyl hervor. So bringen sich Teilnehmer*innen zum Beispiel bei dem Projekt »Sound of Silence« nach einer Führung durch das Lager, Gesprächen mit Überlebenden und Workshops mit eigenen Performances ein, die sie selbst vor Ort erarbeitet haben. Ein Leuchtturmprojekt nennt es Heyl, das über mehrere Tage geht.

Wie wichtig es ist, einen Ausdruck für diesen Teil der deutschen Geschichte zu finden und mit den Informationen umzugehen, macht eine Anekdote deutlich: Als vor Jahren eine norwegische Schülerin, die fünf Gedenkstätten in fünf Tagen besucht hatte, am letzten Tag in Ravensbrück landete, packte sie nach der Gedenkstättenführung eine solche Wut, dass sie gegen einen Laternenpfosten trat. Matthias Heyl wunderte das nicht. Vielmehr zeigte es dem studierten Historiker und Psychologen, wie viel Emotionen bei solchen Besuchen verhandelt werden. Und wie wichtig es ist, diesen Raum zu geben.

Um Geschichte erfolgreich zu vermitteln und den Bezug zum Heute darzustellen, muss man die Teilnehmer*innen erreichen. Dass wir diesen Bezug zur Geschichte des Nationalsozialismus gerade jetzt dringend brauchen, um gesellschaftliche Kipppunkte in unserer Demokratie zu erkennen, ist offensichtlich. Doch wie geht es den Mitarbeiter*innen, die am Ende des Tages zwar nach Hause gehen können, aber am nächsten Tag wieder auf dem Lagergelände stehen, die nächste Führung anbieten oder im Archiv Bildmaterial sammeln? Wie gehen die Mitarbeiter*innen mit diesem Arbeitsalltag um?

Die Psychologiestudentin Caroline Meinshausen von der Universität Konstanz ist dieser Frage nachgegangen und hat in ihrer Bachelorarbeit über die »Sekundärtraumatisierung in der Gedenkstättenarbeit« geforscht. Auf das Thema ist die Studentin gekommen, als sie im Zuge des Studiums feststellte, dass es so gut wie keine Untersuchung dazu gibt, wie es Mitarbeiter*innen an Gedenkstätten mit ihrer Arbeit geht. Matthias Heyl beschreibt den Umgang vor allem der älteren Mitarbeiter*innen als eine Art »professionelle Distanz«, von der viele glaubten, sie schütze vor den Auswirkungen des Themenkomplexes »toxischer Dimension«, mit dem man tagein, tagaus zu tun hat. Inzwischen aber änderten sich der Umgang und die Erwartungshaltung zur mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz vor allem bei den jüngeren Mitarbeiter*innen.

In ihrer Arbeit untersuchte Caroline Meinshausen drei große Altersgruppen und erstellte dafür eine quantitative Online-Studie, in der 44 Mitarbeiter*innen von verschiedenen Gedenkstätten anonym Fragen beantworten konnten. Es ging um die mentale Verfassung und den Umgang mit teilweise originalen Artefakten aus den Lagern, Bildmaterial und Zeitzeug*innenberichten. In der Studie gaben 41 Prozent der Mitarbeiter*innen an, bei der Arbeit sekundärtraumatische Erfahrungen erlebt zu haben.

Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass die Gruppe der Mitarbeiter*innen insgesamt stärker belastet ist und auch deutlich mehr Anzeichen einer Sekundärtraumatisierung aufweist. Wie aber können sich Mitarbeiter*innen schützen beziehungsweise mit dem schwierigen Arbeitsumfeld generell umgehen? Caroline Meinshausen hat herausgefunden, dass die Resilienz eines Menschen oder auch seine Widerstandskraft ein Schlüssel ist. Je höher die Resilienz, um so besser können die Mitarbeiter*innen mit der Arbeit umgehen. Weniger Einfluss hingegen hat die Dauer, also wie lange jemand schon in einer Gedenkstätte arbeitet oder ob man beruflich dabei besonders zufrieden ist.

Einen Raum geben will Matthias Heyl nicht nur den Besucher*innen der Gedenkstätte. Er glaubt auch, dass es wichtig ist, dass die Mitarbeiter*innen sich austauschen können, einen Rahmen für ihre Berufserfahrungen bekommen. Dies sei ihm mit dem Kolloquium um Meinshausens Studie klargeworden. Vor allem jüngere Mitarbeiter*innen wünschten sich mehr Austausch und professionelle Unterstützung.

Verändert hat sich nicht nur der Anspruch zur mentalen Gesundheit am Arbeitsplatz, sondern auch die Zeitzeug*innen selbst. Die letzten dieser ersten Generation, also jene, die im KZ noch gefangen gehalten wurden, sterben heute hochbetagt. Heyl beschreibt die Begegnungen mit ihnen als besonders. Dieser Kontakt bedeutet einerseits zwar mehr persönlichen Austausch mit hochtraumatisierten Menschen. Aber diese Nähe macht auch Auseinandersetzung und Austausch mit den Betroffenen möglich, was beim Umgang mit der Arbeit hilft. In der Studie zeigt sich ebenso, dass der Umgang mit der zweiten Generation teilweise schwieriger ist, weil sich in dieser Generation komplexe Belastungen auf andere Weise zeigen. Und wie gehen Caroline Meinshausen und Matthias Heyl selbst mit dem Thema einer möglichen Sekundärtraumatisierung um?

Caroline Meinshausen nennt als Erstes einen Punkt, der auch bei den Mitarbeiter*innen bisher die größte Rolle spielt. »Ich bin die Wissenschaftlerin, die das Thema untersucht, und kann mich ein bisschen an dieser Rolle orientieren und mich distanzieren,« sagt sie. Von dieser Distanz spricht auch Matthias Heyl, sei es in Form einer professionellen Härte oder aber auch durch Humor. »Wir entwickeln hier zum Teil einen Humor, der dem von Intensivmediziner*innen ähneln dürfte«, erklärt er. Zugleich braucht es Pausen und festgesetzte Zeitrahmen, in denen sich die Wissenschaftlerin Meinshausen mit persönlichen Berichten auseinandersetzt. Nicht zu viel auf einmal. Manchmal heißt das auch, dass man nur Teilinformationen aufnimmt beziehungsweise aufnehmen kann. Heyl betont, wie wichtig das Gespräch der Mitarbeiter*innen untereinander ist. Aus diesem Gedanken entstand dann auch die Idee eines informellen Netzwerkes.

Die Ergebnisse der Studie von Meinshausen machten deutlich, dass es Bedarf für Unterstützung und Supervision gibt. Mithilfe von verschiedenen Akteuren, wozu auch Caroline Meinshausen und ihre Professorin gehören, will Heyl eine Form der gemeinsamen und gedenkstättenübergreifenden Supervision erarbeiten. Die in der Gedenkstätte Ravensbrück bereits etablierten offenen Gespräche sollen über das Netzwerk auch für andere Orte und verschiedene Mitarbeiter*innengruppen geöffnet werden. Eigentlich wäre ein institutionalisiertes Netzwerk notwendig, betont Matthias Heyl, zu dem auch geschützte Räume gehören müssten, die nicht Teil der Gedenkstätte und damit frei von typischen Arbeitsansprüchen wären. Orte, wo es zum Austausch kommen kann.

All das hängt aber, wie so vieles, an der Finanzierung der Gedenkstätten, die nicht ausreicht. In Ravensbrück arbeitet nur Matthias Heyl als Pädagogischer Leiter in Vollzeit, während alle anderen Kolleg*innen eine Teilzeitstelle haben. Zu wenig Ressourcen wiederum führen zu einer höheren Selbstausbeutung, die die mentalen Belastungen noch verstärken können. Wenn Menschen für ihre Arbeit brennen, arbeiten sie oftmals mehr. Vor allem, wenn sie erkennen, wie wichtig die Bildungsarbeit ist, die sie in den Gedenkstätten leisten.

Dass aber die Bildung der Dreh- und Angelpunkt für eine funktionierende Demokratie ist und dort alles zusammenläuft, was wir uns von einer offenen und pluralistischen Gesellschaft erhoffen, scheint weiterhin nur zu Wahlkampfzeiten richtig. Neben engagierten Pädagog*innen und Kulturschaffenden braucht es vor allem Geld, um die Demokratie zu schützen. Geld für mehr Mitarbeiter*innen, mehr interdisziplinäre und internationale Projekte, Geld für Supervision und Unterstützung der Menschen, die wichtige Arbeit leisten und Pausen und Unterstützung brauchen. Das sollte es uns als Gesellschaft wert sein.

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