Terror im Treppenhaus

Rassistische Beleidigungen, Bedrohungen, Exhibitionismus: Neuköllner Mieter wird verurteilt

Solche und ähnliche Beleidigungen musste sich eine Mieterin in Neukölln über Jahre gefallen lassen
Solche und ähnliche Beleidigungen musste sich eine Mieterin in Neukölln über Jahre gefallen lassen

Es ist voll in dem Gerichtssaal im dritten Stock des Kriminalgerichts Moabit. Im Zuschauerbereich im hinteren Teil des Saals drängen sich so viele Menschen, dass ein Teil derjenigen, die am Freitagmorgen zu dem Verfahren wollen, an der Tür abgewiesen werden muss. Der Richter muss für Ordnung sorgen, der Prozess beginnt mit deutlicher Verspätung.

Der Fall, der verhandelt wird, hatte zuvor in sozialen Medien für Aufsehen gesorgt. Er ist der Höhepunkt einer jahrelangen Auseinandersetzung in einem Mietshaus in Neukölln. H., eine ältere Frau mit westafrikanischen Wurzeln, die weitgehend mittellos lebt, wurde immer wieder von ihrem Nachbarn A. drangsaliert. In ihrer Befragung berichtet sie von den alltäglichen Attacken. »Seit 13 Jahren terrorisiert er mich«, sagt sie. A. habe ihr ein Fahrrad geklaut und sie mit einem Messer bedroht. An einem anderen Tag habe er sie mit einem Regenschirm »richtig geschlagen«. Und immer wieder: übelste rassistische Beschimpfungen, über den Innenhof gebrüllt oder auf ausgedruckten Zetteln im Haus verklebt. »Du afrikanische Nutte« steht auf einem, der fotografisch dokumentiert ist.

Dann der Vorfall im Juni, der am Freitagmorgen verhandelt wird: A., der eine Ausbildung zum Maler gemacht und als Sicherheitsmann gearbeitet hatte, bevor er in seinen Vierzigern arbeitslos wurde, soll sich in seiner Wohnungstür stehend vor H. entblößt haben und »bis zur Ejakulation« masturbiert haben, verliest der Staatsanwalt zu Beginn aus der Anklageschrift. Dabei habe er sie weiter rassistisch beleidigt.

A. habe sie an diesem Abend schon von seinem zum Innenhof gerichteten Fenster aus beobachtet, als sie heimgekommen sei, berichtet H., die als Pflegerin arbeitet. Sie spricht in ihrer Muttersprache Twi und wird von einem Dolmetscher übersetzt. Ein vorangegangener Prozess wegen Beleidigung war auch an Verständigungsproblemen gescheitert. Als sie im Treppenhaus an A.s Wohnungstür vorbeigekommen sei, habe er nackt die Tür geöffnet. »Mit seiner sogenannten Männlichkeit« habe er dabei gespielt und ihr mit Vergewaltigung gedroht. Sie sei daraufhin zu einer Nachbarin geflüchtet, habe sich aber noch umgedreht und mit ihrem Handy ein Video gedreht.

Sichtlich unangenehm wird es für H., als der Richter nach immer mehr Details zu dem traumatischen Vorfall fragt. Wie A. an sich »herumgespielt« habe, will er wissen. H. zeigt mit einer Handbewegung, was sie gesehen hat. Für sie ist der Vorfall die Spitze einer langen Reihe von Angriffen. »Ich möchte einfach, dass er mich in Ruhe lässt«, sagt sie am Ende ihrer Befragung.

Die Nachbarin, bei der sich H. versteckt hielt, bestätigt, dass H. »vollkommen aufgelöst« gewesen sei. Sie selbst habe das Geschehen nicht beobachtet, habe aber plötzlich Schreie gehört. H. habe zitternd an ihrer Tür gestanden. Gemeinsam habe man beraten, ob man die Polizei rufen solle. H. sei dagegen gewesen, »weil das eh nichts bringe«. Erst nach langem Zureden habe sie H. überzeugen können, die Polizei zu rufen, die die Anzeige aufnahm.

A., der ohne Verteidiger gekommen ist, präsentiert eine andere Version der Geschichte: Er habe unter der Dusche gestanden, als er ein lautes Klopfen gehört habe. Nur mit einem Handtuch bekleidet habe er die Wohnungstür geöffnet, auf die H. gerade mit einem spitzen Objekt geschlagen habe. Um sie vom weiteren Beschädigen der Haustür abzuhalten, sei er vor die Tür getreten, sagt A. Dabei sei ihm das Handtuch runtergerutscht. Warum er das Handtuch nicht aufgehoben habe, fragt der Richter. Er sei »in Panik« gewesen, antwortet A. Die Aufnahme aus dem Video zeige ihn auch nicht beim Masturbieren, sondern bei dem Versuch, seine Scham zu verdecken. In Wirklichkeit sei er das Opfer von H., die ihn immer wieder angehe. »Ich weiß auch nicht, was ihr Problem ist«, sagt er und gibt sich kämpferisch: »Am Ende wird die Wahrheit siegen.«

A.s Geschichte will der Richter aber nicht glauben. Es gebe keine vernünftigen Zweifel an den Tatvorwürfen, sagt er in dem nach kurzer Pause gefällten Urteil. A.s Aussagen seien nicht glaubhaft und wirkten »um die Vorwürfe herum konstruiert«. Der wegen Diebstahls und Betrugs vorbestrafte A. wird zu 100 Tagessätzen von 15 Euro verurteilt. »Kann man da nicht etwas runtergehen?«, fragt A. Der Richter lacht nur. »Egal, was Ihr Problem mit Frau H. ist: Sie müssen es anders artikulieren, sonst sitzen Sie hier häufiger«, gibt er dem Verurteilten mit.

Trotz der Verurteilung bleiben nach dem Prozess Fragen offen: Warum stellte die Polizei dem Gericht nicht das Video von der Tat zur Verfügung? Eine CD, die das Video enthalten sollte, sei leer gewesen, berichtet der Richter. Stattdessen musste mit einem verwackelten Standbild aus dem Video gearbeitet werden. Und warum stellte sich die Hausverwaltung immer wieder auf A.s Seite? Sie weigert sich seit Jahren, gegen A. vorzugehen. Selbst der angebliche Angriff auf die Wohnungstür wurde H. in Rechnung gestellt – offenbar ohne dass jemand den vorgeblichen Schaden begutachtete. In Absprache mit einem Anwalt hat H. die Rechnung aber nicht bezahlt.

Als das Urteil verkündet wird, sind H. und ihre Unterstützer im Zuschauerbereich dennoch erleichtert. »Jetzt habt ihr eure Ruhe«, zischt A. im Vorbeigehen noch in ihre Richtung. Ob dieses Versprechen erfüllt wird, ist nicht klar.

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