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- Interview mit Ismail Küpeli
»Der türkische Staat setzt auf Gewalt und Vernichtung«
Ein Gespräch mit Ismail Küpeli über die Gründung des türkischen Nationalstaats und die sogenannte kurdische Frage
Sie haben den Zusammenhang zwischen der Gründung des türkischen Nationalstaats und der sogenannten kurdischen Frage erforscht – was bislang kaum jemand gemacht hat.
Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Publizist. Seine Dissertation »Die kurdische Frage in der Türkei: Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit« erschien im Juni 2022 im transcript Verlag. Derzeit arbeitet er in einem Forschungsprojekt an der Universität zu Köln zu den gesellschaftlichen Auswirkungen von Verschwörungsideologien.
Die Forschungsarbeit gestaltete sich schwierig und ich musste mich damit abfinden, dass in manchen Fällen das Material nur unvollständig vorlag. Ein Beispiel dafür ist das Massaker im Zilan-Tal 1930 (bei dem bis zu 55 000 Menschen starben – d. Red.), das ich hauptsächlich auf der Basis von Zeitungsberichten rekonstruieren musste, weil die wichtigsten Quellen, nämlich die Planungen und Berichte des türkischen Generalstabs in diesen konkreten Fall nicht verfügbar waren. Aber solche Schwierigkeiten erleben alle Forscher*innen, die sich kritisch mit der Geschichte und Gegenwart des türkischen Nationalstaats beschäftigen.
Sie bezeichnen den türkischen Staat als einen »Gärtnerstaat« nach einem Begriff des Soziologen Zygmunt Bauman. Was meinen Sie damit?
Der Begriff »Gärtnerstaat« eröffnet eine wichtige Perspektive auf das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Bevölkerung im jeweiligen Staatsterritorium. Während vielfach von einem Vertrags- oder Tauschverhältnis zwischen Staat und Bevölkerung ausgegangen wird, in dem der Staat Sicherheit und Ordnung gewährleistet und dafür Steuern und Zustimmung seitens der Bevölkerung einfordert, bietet Zygmunt Bauman eine andere Lesart. Hier ist der Staat kein »Dienstleister« für die Bevölkerung, sondern ein politischer Akteur mit spezifischen Zielen. Die Bevölkerung wird zur einer Ressource, mit der der Staat seine Ziele umsetzt. Ganz konkret bedeutet das z.B., dass der Nationalstaat eine vorab bestimmte Nation schaffen will und dabei »unerwünschte« Bevölkerungsteile vernichtet und/oder vertreibt – genau wie ein Gärtner, der Unkraut entfernt.
Was war das besondere an der türkischen Staatsgründung nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs?
Über die Geschichte der Türkei kursieren leider sehr viele Mythen und Legenden, die häufig auf eine affirmative und staatlich durchgesetzte Geschichtserzählung aus der Türkei selbst zurückgehen. Dazu gehört etwa die Erzählung über den »Türkischen Befreiungskrieg« von 1918–1923, die als ein antiimperialistischer Kampf gegen die Siegermächte des Ersten Weltkriegs beschrieben wird. Wenn wir uns aber diese Phase genauer anschauen, sehen wir eine Kette von gewaltsamen Maßnahmen inkl. Kriege, Massaker und Vertreibungen gegen nichtmuslimische Bevölkerungsgruppen – darunter auch die armenischen Überlebenden des Genozids von 1915. Ähnliche falsche Darstellungen betreffen etwa die Charakterisierung der Republik Türkei als einen demokratischen Staat.
Die 1920er und 1930er Jahre in diesem jungen Staat werden gemeinhin als eine Phase kurdischer Aufstände beschrieben. Sie sind nicht dieser Auffassung?
In zwei konkreten Fällen lässt sich von einem Aufstand sprechen; der Scheich-Said-Aufstand 1925 und der Aufstand 1930 in der Ararat-Region. Aber – und hier ist der Dissens – in den zahlreichen anderen Fällen, die ebenfalls als Aufstände deklariert werden, dient diese Bezeichnung dazu, vom türkischen Generalstab geplante und von der türkischen Armee durchgeführte Vernichtungsoperationen zu rechtfertigen. Doch wenn wir uns die jeweiligen Begründungen der Operationen anschauen, dann entdecken wir nichts, was eine Militäroperation rechtfertigen würde. Es handelt sich um Maßnahmen gegen nicht-türkische Bevölkerungsgruppen, um die staatlich gewünschte Zwangsassimilation gewaltsam durchzusetzen. Auch der Verlauf der jeweiligen Operation spricht nicht dafür, hier von Aufständen zu sprechen: Bereits vorab ausgesuchte Dörfer werden von Armeeeinheiten angegriffen, Männer vor Ort erschossen, Frauen und Kinder deportiert. Zu tatsächlichen Gefechten zwischen türkischen Soldaten und bewaffneten Kurd*innen kommt es nur selten – und wenn doch, dann werden diese Vorfälle auch in den Berichten des türkischen Generalstabs als nicht hinnehmbar bezeichnet. Bei einem tatsächlichen Aufstand wären jedoch solche Gefechte üblich und nicht weiter auffällig. Auch der angebliche Aufstand in Dersim, womit die Vernichtungsoperationen 1937–1938 legitimiert wurden, stellt sich im näheren Hinschauen als eine wenig überzeugende Erzählung heraus, die lediglich dazu dient, den Massenmord zu rechtfertigen.
Sie sprechen nicht von der »kurdischen Frage«, sondern ziehen die Bezeichnung »Türkeifrage« vor – warum?
Weil dieser Konflikt nicht darauf zurückgeht, dass Kurd*innen existieren, eine bestimmte Sprache sprechen oder irgendwelche kulturellen Eigenarten hätten, sondern darauf, dass der türkische Nationalstaat eine ethnisch homogene Türkei schaffen will, in der nur die türkische Nation eine Existenzberechtigung hat und andere Bevölkerungsgruppen grundsätzlich als ein Problem angesehen werden. Und die »kurdische Frage« lässt sich nur lösen, indem die »Türkeifrage« gestellt wird, nämlich so: Wie muss eine Gesellschaft auf dem heutigen Staatsgebiet der Türkei gestaltet werden, damit alle Bevölkerungsgruppen gleichberechtigt zusammenleben können? Dazu kommt, dass die »kurdische Frage« in der Türkei nur verstanden werden kann, wenn man sich all die anderen »Fragen« anschaut; nämlich das Vorgehen des türkischen Nationalstaats gegen all die nicht-türkischen Bevölkerungen. Dazu gehört die Vernichtung der Armenier*innen, sowohl durch den Genozid von 1915 als auch durch die staatliche Gewalt in den Folgejahren, dazu gehört die Vernichtung und Vertreibung anderer christlicher Bevölkerungsgruppen wie etwa die Pontosgriech*innen, dazu gehört die Zwangsassimilation der Tscherkess*innen, dazu gehört die De-facto-Vertreibung der türkischen Juden und Jüdinnen durch eine repressive Politik in den 1930ern und 1940ern. Insofern ja, es ist eine »Türkeifrage«.
In Ihrer Auseinandersetzung mit der »Türkeifrage« unterscheiden Sie zwischen verschiedenen kurdischen Akteuren: beispielsweise kurdischen Eliten in Istanbul, Fürsten und Scheichs und deren unterschiedliche politische Agenda. Wird hier der Klassenkonflikt im nationalistischen Gewand ausgefochten?
Die Klassenfrage ist sicherlich eine wichtige und erklärt zum Teil auch das Verhalten der staatsloyalen kurdischen Eliten gegenüber dem türkischen Nationalstaat. Aber zuerst wird die Klassenfrage von der nationalistischen Ideologie insofern überlagert, in dem der türkische Nationalstaat versucht, alle nicht-türkischen »Elemente« zu zerschlagen und/oder zu vernichten. Erst als dies im Falle der Kurd*innen scheitert, kommt es zu einem erneuten Arrangement zwischen dem türkischen Nationalstaat und den lokalen kurdischen Eliten, die in diesem Kontext zu den Stellvertretern und Vermittlern des Staates in ihren jeweiligen Gebieten werden. Und dementsprechend gewinnt die Klassenfrage in der Beziehung zwischen kurdischen Eliten und der »einfachen« kurdischen Bevölkerung wieder an Bedeutung.
Welche Möglichkeiten hat die Wissenschaft in diesem doch sehr schwer zugänglichen Forschungsfeld?
Ja, es stimmt, die Archive sind noch verschlossen und in der Türkei selbst ist kritische Forschung faktisch unmöglich. Aber zumindest im Exil, etwa in Europa, lassen sich mit dem Material, das man sehr mühselig über Umwege zusammentragen kann, bereits sinnvolle Beiträge für die wissenschaftliche Aufarbeitung leisten. Und diese Beiträge braucht es, um den Nationalstaat, der fast immer auf Exklusion, Vertreibung und Vernichtung von »unerwünschten« Bevölkerungsgruppen setzt, zu hinterfragen und neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln, in der nicht eine Bevölkerungsgruppe andere beherrscht, sondern Demokratie und Pluralismus selbstverständlich sind.
Ismail Küpeli: Die kurdische Frage in der Türkei: Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit. Transcript, 256 S., br., 39 €
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