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Jedes Leben ist prekär, aber manche sind es mehr

Das Schwule Museum* Berlin widmet sich in der Ausstellung »Queering the Crip, Cripping the Queer« dem Verhältnis von Queerness und Behinderungen

  • Zofia Nierodzińska
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Ausstellung versammelt Arbeiten in verschiedenen Medien.
Die Ausstellung versammelt Arbeiten in verschiedenen Medien.

Jedes Leben ist zerbrechlich, daher müssen soziale Bedingungen geschaffen werden, damit es erhalten bleibt. Das Problem ist, dass nicht alles Leben als solches anerkannt wird. Das zeigt sich auch daran, dass nicht jede*r nach seinem Tod betrauert wird. Dies ist zumindest die These der Philosophin Judith Butler in ihrem Buch »Raster des Krieges. Warum wir nicht jedes Leid beklagen«. Am deutlichsten wird dieser Skandal in Kriegszeiten, wenn Menschen mit Pflegebedarf, die weder Fluchtmöglichkeit haben noch in die Heldenerzählung passen, kaum Überlebenschancen haben. Doch auch in sogenannten Friedenszeiten laufen diejenigen, die von der Norm abweichen, Gefahr, aus der Sphäre der Subjektivität und damit aus einem schützenswerten Lebensrahmen ausgeschlossen zu werden.

Um Existenzen, die aufgrund ihrer Behinderung und Identität marginalisiert werden, geht es in der Ausstellung »Queering the Crip, Cripping the Queer« im Schwulen Museum* Berlin. Ein Kurator*innenteam (Kenny Fries, Brigit Bosold, Kate Brehme und Sydney Ramirez), das sich aus nicht-heteronormativen Menschen, die teilweise selbst mit Behinderungen leben, zusammensetzt, widmet sich den Überschneidungen zwischen Queerness und Behinderung.

Der Titel der Ausstellung ist eine Anlehnung an den 2003 erschienenen, bahnbrechenden Artikel »Queering The Crip or Cripping The Queer?« der US-amerikanischen Filmproduzentin und Autorin Carrie Sandahl, die darin herausstellte, dass queere Personen und behinderte Menschen eine Geschichte der Ungerechtigkeit teilen.

In acht Kapitel gegliedert werden Beschreibungen von Schlüsselkonzepten der Queer und Disability Studies (Studien zu Queerness und Behinderung) mit Werken von Künstler*innen zusammengestellt, von denen die meisten mit diesen Themen aus der Perspektive ihrer eigenen Körperlichkeit vertraut sind. Das erste Kapitel »Der Ideale Körper« setzt sich kritisch mit den historischen und kunstgeschichtlichen Darstellungen von (vermeintlich?) fitten, weißen und athletischen Körpern auseinander, etwa den antiken Statuen der »Venus von Milo« oder des »Torso des Doryphoros mit Kopf«. Künstler*innen wie die in den USA lebende Malerin Riva Lehrer oder Steven Solbrig, geboren in der DDR, bekennen sich zu ihren behinderten Körpern, indem sie in ihren Gemälden und Fotografien die Freude zeigen, die ihnen ihre materielle Anwesenheit bereitet, ohne Scham oder Angst vor Ausgrenzung. Beide sind auch Aktivist*innen, die sich mit ihrer Arbeit und ihrem Engagement gegen auf Mitleid basierende Barmherzigkeit gegenüber behinderten Menschen wenden. Stattdessen schlagen sie eine Körperpositivität vor, die auf Bewunderung der Schönheit nicht-normativer Körper beruht.

Im Mittelalter wurde Behinderung als Strafe für Sünden interpretiert. Damals begann man, kranke und behinderte Menschen von der übrigen Gesellschaft zu trennen. Es entstanden erste Anstalten, wie zum Beispiel das berüchtigte Londoner Bethlem-Hospital, umgangssprachlich auch als Bedlam bekannt – ein Begriff, der mittlerweile als Synonym für Chaos und Verwirrung verwendet wird. Im Zuge der Aufklärung entstanden die Ideen von Nationen und Rassen, die durch die Autorität der europäischen Wissenschaft untermauert wurden und die Kolonisierung eines Großteils der Erde durch die Europäer*innen rechtfertigten. In jener Zeit kam es auch zur Medikalisierung von Behinderung. Im 19. Jahrhundert festigte sich gesellschaftlich der Begriff der Norm, der, wie in den berüchtigten amerikanischen »ugly laws«, mit Repressionen gegen Arme und behinderte Personen verbunden war. Ihnen wurde der Aufenthalt im öffentlichen Raum an der Seite der »anständigen Bürger*innen« untersagt.

Im Teil der Ausstellung, der dem 20. Jahrhundert gewidmet ist, werden die von den Nazis verübten »Euthanasie«-Verbrechen bzw. der Massenmord von Menschen mit Behinderungen thematisiert. So sind dort etwa Briefe aus dem Gefängnis von Hans Heinrich Festersen zu sehen, einem queeren und behinderten Mann. Festersen wurde am 12. Oktober 1942 von der Polizei wegen Verstoßes gegen den Paragrafen 175 (der »widernatürliche Unzucht« unter Männern unter Strafe stellte) verhaftet und ein Jahr später auf der Grundlage des »Gesetzes gegen gefährliche Sittlichkeitsdelikte« zum Tode verurteilt.

Unter dem Titel »Die Unnachgiebigen« (2022) werden Digitaldrucke von Elizabeth Sweeney ausgestellt, in denen die kanadische Künstlerin, die sich selbst als neurodivers bezeichnet, abwertende Begriffe für nicht-normative Menschen verhandelt. Bei ihrer Analyse zeitgenössischer Ausgrenzungen fügt die Künstlerin den marginalisierten Gruppen diejenigen hinzu, die aufgrund von Gentrifizierungsprozessen ihrer Wohnräume beraubt wurden, einschließlich derjenigen, die ihre Wohnungen in dem Viertel rund um die Lützowstraße verloren haben, in der sich das Schwule Museum* befindet. Der letzte Teil der Ausstellung zeigt Ikonen der Crip-Queer-Bewegung, wie die Dichterin und Schwarze Aktivistin Audre Lorde, die multidisziplinäre Künstlerin Lorenza Böttner und den Journalisten und Choreographen Raimund Hoghe.

Mit ihren vielen ausführlichen Beschreibungen in leichter Sprache erinnert die Ausstellung an eine Publikation zum Zwecke der Aufklärung – die Kunst hier ist jedoch nicht nur eine Illustration für die diagnostizierten Probleme, sondern eine kraftvolle, emanzipatorische Gegenerzählung zur Gewalt ableistischer Tradition. Es bleibt zu hoffen, dass die präsentierten Argumente über die Verbindungen zwischen Behinderung und Queerness sowie ihr jeweiliges Verhältnis zur Norm in verschiedenen Kontexten weiterentwickelt und diskutiert werden.

»Queering the Crip, Cripping the Queer«, bis zum 30. April, Schwules Museum* Berlin

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