»Es gibt Hierarchien der NS-Opfer«

Die Historikerin Anna Hájková über die Verfolgung queerer Menschen während des Nationalsozialismus

  • Interview: Lilli Mehne
  • Lesedauer: 5 Min.

Am 27. Januar gedenkt der Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus. Dabei sollen zum ersten Mal diejenigen im Mittelpunkt stehen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder geschlechtlichen Identität verfolgt wurden. Warum ist das wichtig?

Weil diese Gruppe am meisten und am längsten stigmatisiert worden ist. Für mich als Holocaust-Historikerin ist es absolut klar, dass es Hierarchien der Opfer gibt. Über bestimmte Opfergruppen wird entweder gar nicht geforscht oder, wenn über sie geschrieben wird, werden Vorurteile aus den Quellen übernommen. Die zwei Gruppen, die mit am meisten stigmatisiert werden, sind die sogenannten Asozialen und Berufsverbrecher sowie die große Gruppe der queeren Opfer, darunter Schwule, Lesben, trans und inter Personen. Es kommt leider immer wieder vor, dass Überlebende stigmatisierende Aussagen zu gleichgeschlechtlichem Verlangen unter Mithäftlingen machten. Verstehen Sie mich nicht falsch. Das waren ungemein couragierte Leute, die wir aus guten Gründen sehr ernst nehmen und schätzen. Aber die Memoiren der Überlebenden, wenn sie sich zu gleichgeschlechtlichem Verlangen äußern, zeigen diese als abscheulich, ja, unmenschlich; als wäre Queerness ein Beispiel dafür, wie die Lager die Leute korrumpieren. Bei der Forschung dazu riskiert man natürlich viel. Denn wir wollen gerne glauben, dass die Holocaust-Opfer solidarisch zueinander waren. Da ist es schwer, sie als Leute zu zeigen, die auch Vorurteile haben und ungerecht zu anderen sind.

Unter dem Paragrafen 175 waren im Nationalsozialismus sexuelle Handlungen zwischen Männern – dazu zählten auch Zungenküsse – verboten. Rund 50 000 Urteile wurden nach diesem Paragrafen gefällt und etwa 10 000 Männer landeten in Konzentrationslagern, in denen sie mit dem »Rosa Winkel« gekennzeichnet wurden. Sex zwischen Frauen war unter diesem Paragrafen nicht verboten. Wie sah die Verfolgung von lesbischen Frauen aus?

Es gab sehr heftigen Widerstand aus der älteren Generation der Schwulen zu der Frage, ob Lesben verfolgt worden sind. Lesben sind durchaus verfolgt worden, tatsächlich auch mit dem Paragrafen 175, wie Christian-Alexander Wäldner in seiner Forschung zeigte. Aber bei der Mehrheit der Paragrafen, mit denen Lesben verfolgt wurden, ging es nicht unbedingt um gleichgeschlechtliches Verlangen. Stattdessen wurden Gesetze gegen Diebstahl oder Prostitution, gegen Erregung des öffentlichen Ärgernisses oder Sex mit Minderjährigen benutzt. Man muss bedenken, selbst wenn einem Großteil der Schwulen und Lesben nichts passiert ist, reichen die restlichen Fälle aus, um den Menschen Angst zu machen.

Wie genau hat diese Angst die Lebensrealität von queeren Menschen beeinflusst?

Die meisten queeren Leute lebten angepasster. Frauen ließen sich lange Haare wachsen. Sie trugen Kleider, wo sie früher Hosen getragen hätten. Manche heirateten. Es gab keine lesbischen oder queeren Bars mehr. Das ist auch eine Form der Gewalt und der Verfolgung. Gleichzeitig wissen wir auch etwas über lesbische Frauen mit kurzen Haaren und Hosen. Diesbezüglich muss noch viel mehr Forschung geleistet werden. Bisher ist die Geschichte der queeren Menschen in der NS-Zeit nicht systematisch mit gut finanzierten Projekten erforscht worden. Wenn Sie sich anschauen, wie viel in den letzten 70 Jahren über Nazideutschland geforscht wurde und wie viel wir über unterschiedliche Gruppen wissen – warum haben wir dieses Wissen nicht über die queeren Menschen? Das zeigt, wie lange die Stigmatisierung anhält.

Inwiefern ist es angemessen, den Begriff »queer« zu verwenden, wenn wir über die Verfolgung von sexuellen Minderheiten unter dem NS-Regime sprechen?

Es ist immer wichtig, bei Begriffen zu fragen, inwieweit sie uns helfen, eine Situation zu verstehen und welche Annahmen dahinterstehen. Bei den Begriffen »schwul« und »lesbisch« gehen die meisten Forscher*innen davon aus, dass sich der Mensch so selbst definiert. Das wissen wir aus den historischen Quellen aber zumeist nicht. Der Begriff »queer«, so wie er oft in der Geschichtswissenschaft benutzt wird, drückt nicht diese Zugehörigkeit aus, sondern bezeichnet Handlungen und Praktiken. Das heißt, wir schauen uns nicht an, wie sich die Leute selbst verstanden haben, sondern wie sie lebten.

Im Jahr 2021 hatte Ihr Theaterstück »Das wunderbare Leben der Margot Heuman« in Brighton Premiere, das auf Ihren Gesprächen mit der Holocaust-Überlebenden Margot Heuman basiert. Darin wird vom Leben einer jüdischen, lesbischen Frau während der NS-Zeit berichtet. Welche Rolle spielen solche Formen der Geschichtserzählung für das Gedenken an queere Opfer?

Die Frage ist größer: Welche Rolle spielt Theater für unser Verständnis von Holocaust und für Geschichte? Dokumentartheater ist da sehr nützlich und kann vieles leisten. Die Idee hinter unserem Theaterstück war auch, nicht nur andere zu kritisieren, sondern selbst eines zu schreiben – so, wie wir es uns wünschen. Was mich sehr umtreibt, ist, wie verfärbt und falsch und flach der Holocaust oft dargestellt wird. Da frage ich mich schon, wie zum Beispiel »Der Junge im gestreiften Pyjama« als Roman und Film überhaupt so erfolgreich werden konnte, obwohl er an jeglicher Wirklichkeit im Holocaust vorbeigeht und diese sogar gefährlich verzerrt. Mit meiner Forschung versuche ich deswegen zu zeigen, wie die gelebte Realität der Holocaust-Opfer aussah.

Warum genau sind diese flachen Darstellungen des Holocausts so gefährlich?

Diese Darstellungen führen dazu, dass die Leute sich eine gewünschte Geschichte schreiben. Davon sind queere Historiker*innen nicht frei. Viel Forschung der früheren Jahre zeigt ausschließlich queere Leute, wie sie verfolgt wurden und solidarisch waren. Neuere Erkenntnisse zeigen: Das ist vielschichtiger und schwieriger. Eine Aufseherin, zu der ich forsche, führte eine erzwungene Beziehung mit einer Gefangenen. Sie ist keine Heldin, auch wenn sie lesbisch war. Die Geschichte passt nicht in einfache Schubladen. Und wir sollten unsere Schubladen der Geschichte anpassen und nicht die Geschichte an die Schubladen.

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