• Kultur
  • Film »Utama – ein Leben in Würde«

Die Nächte kälter, die Tage heißer

»Utama« zeigt in elegischen Bildern das Leben der letzten indigenen Landwirte in den bolivianischen Anden

  • Nicolai Hagedorn
  • Lesedauer: 5 Min.
Sisa (Luisa Quispe) und Virginio (José Calcina) fällt ihr Alltag zunehmend schwer.
Sisa (Luisa Quispe) und Virginio (José Calcina) fällt ihr Alltag zunehmend schwer.

Das Beeindruckendste an »Utama – ein Leben in Würde«, dem Debütfilm des bolivianischen Regisseurs Alejandro Loayza Grisi, ist das nicht Offensichtliche. Sondern die unterschwellige Warnung davor, dass sich der Eingriff in die Natur und ihre Abläufe, der gerade stattfindet, nicht mehr rückgängig machen lässt. Das vermeintlich zeitlose indigene bolivianische Landleben sieht als Folge des menschengemachten Klimawandels seinem Ende entgegen.

Die Protagonisten des Films, Sisa (Luisa Quispe) und Virginio (José Calcina), führen in ihrem Haus am Rande des Altiplano, einer Hochebene in den bolivianischen Anden, ein Leben wie viele Generationen vor ihnen. Die wenigen, aber körperlich anstrengenden täglichen Verrichtungen sind immer die gleichen: Wasser muss aus dem Dorf geholt, die Lamas geweidet, Essen zubereitet werden. Die beiden sind alt, die Arbeit fällt ihnen zunehmend schwer. Sohn und Enkel sind längst in die Stadt gezogen, weil es auf dem Land keine Perspektive mehr für sie gibt. Der Klimawandel führt zu extremer Wasserknappheit, sodass in absehbarer Zeit selbst das einfache, minimalistische Leben der Eltern und Großeltern hier kaum mehr möglich sein dürfte. Virginio ist außerdem schwer lungenkrank, doch im Altiplano gibt es weder Arzt noch Medizin. Außerdem ist sich solcher Mittel zu bedienen in seiner Vorstellung ein Eingriff in die Natur, den er ablehnt. Sein Wunsch ist, dass seine geliebte Frau Sisa ihn auf dem Weg auf die andere Seite begleitet, mit »zum See« kommt, »um den Seelenweg zu überqueren«.

Mit dem Besuch des Enkels Clever (Santos Choque), der aus der großen Stadt nicht nur Lebensmittel mitgebracht hat, sondern auch eine Botschaft seines Vaters und eine wichtige Neuigkeit, platzt die Moderne in das seit Jahrhunderten mehr oder minder unveränderte Leben der Landbewohner. Diese Symbolik inszeniert Grisi gewissermaßen als doppelte Bedrohung. Clever personifiziert das moderne Leben in hektischen, durchtechnisierten Großstädten, das mit dem ewigen Kreislauf der Natur, den mythischen Zeichen der Ureinwohner nichts mehr zu tun, ja nicht einmal mehr eine gemeinsame Sprache hat (Clever spricht kein Quechua, die Sprache der indigenen Andenbewohner).

Während sich die beiden Alten gegen den Vorschlag des Enkels, doch mit ihm in die Stadt zu ziehen, noch wehren können, ist die Regenlosigkeit, die die seit ewigen Zeiten gerade so hinreichend fruchtbare Erde der Region zu einer ausgetrockneten Wüste macht, der unhintergehbare Übergriff der Moderne gegen das ursprüngliche menschliche Leben. Und diese Symbolik ist beklemmend: Der Kapitalismus samt profitorientierter Durchtechnisierung der Welt duldet kein Außen mehr. Wer sich ihm nicht längst unterworfen hat, der wird es spätestens dann tun müssen, wenn ihm das Wasser ausgeht.

»Die Regenzeiten werden kürzer und die Dürreperioden länger, die Nächte kälter und die Tage heißer, die Gletscher schmelzen und das Wasser wird knapp. Es ist eines der vom Klimawandel am stärksten betroffenen und verwundbarsten Gebiete der Erde. Das ohnehin schon karge Gebiet wird immer unwirtlicher und zwingt die einheimische Bevölkerung zur Migration in die Städte, wo sie nicht weiß, wie sie leben soll, und wo sie mit einer Sprache konfrontiert wird, die nicht ihre eigene ist«, sagt Grisi über den realen Hintergrund seines Films. »Die Figuren Virginio und Sisa mit all der Weisheit, die sie im Laufe ihrer Jahre erworben haben, stehen für eine Kultur, die mitansehen muss, wie der jüngeren Generation Muttersprache und traditioneller Glaube abhandenkommen, während sie zunehmend aufgehen in einer wachsenden globalisierten Welt. Die Quechua-Kultur und ihr Verständnis von Leben, Sterben und Natur kennen wir in La Paz sehr gut, aber sie ist im Verschwinden begriffen.« Grisi zeigt das Verhältnis zwischen ursprünglicher und moderner Menschheit zwar als von Übergriffigkeit und Zerstörung geprägt – gleichzeitig gibt es aber auch liebevolle Verbindungen zwischen Menschen beider Welten.

Der Film spielt ausschließlich in und um das Haus der beiden Alten, die von Luisa Quispe und José Calcina wohl so überzeugend dargestellt werden, weil die beiden Laienschauspieler und auch im wirklichen Leben ein Paar sind. Das Minimalistische, Puristische, die redundante Routine der beiden Protagonisten finden ihr ästhetisches Äquivalent in den elegischen und langen Natur-Einstellungen. Hier geht es nicht darum, dauernd etwas Neues zu erleben, die Lebenszeit mit Events und Highlights vollzustopfen, sondern das zu genießen, womit man sich wohlfühlt, das Zusammensein mit dem geliebten Menschen, und die Arbeit, die ganz explizit nicht kapitalistisch ist, also nicht der Mehrwertproduktion dient und daher auch nicht entfremdet ist, sondern als eigene Arbeit genießbar.

Kamerafrau Bárbara Álvarez gelingt es in überwältigenden Bildern, die wettergegerbten Menschen als Teile der weiten und schönen Natur um sie herum zu zeigen. Gerade ihr fortgeschrittenes Alter, das Vom-Leben-gezeichnet-Sein macht die beiden alten Menschen in Álvarez’ und Grisis Bildsprache schön. Selten wurde diese Schönheit des Menschen als Naturgeschöpf derart in den Mittelpunkt der filmischen Darstellung gebracht. Erst vor diesem Hintergrund wird das Barbarische der vor sich gehenden (Selbst-)Zerstörung besonders deutlich.

»Es ist eine Geschichte, die durch die Augen eines einfachen Paares erzählt wird, das mit dem Tod und dem Verlust seiner Werte und Bräuche konfrontiert ist. Aber es gibt immer noch die Möglichkeit der Beharrlichkeit und der Bewahrung. Obwohl es wie eine Tragödie aussieht, möchte ich, dass der Film Hoffnung vermittelt« sagt Grisi. Und das ist ihm gelungen, auch wenn gleichfalls klar wird, dass es sich nur noch um eine vage Hoffnung handelt und nicht mehr viel Zeit bleibt. Beim diesjährigen Sundance-Festival gewann »Utama – ein Leben in Würde« den Grand Jury Prize. Zu Recht: Es ist ein bemerkenswertes Regiedebüt, das sich viel Zeit für seine Figuren und ihre Sicht auf die Welt nimmt und dem es gelingt, ohne Kitsch und Pathos ein differenziertes Bild der beklemmenden Lage indigener Menschen
zu zeichnen.

»Utama – ein Leben in Würde«, Bolivien/Uruguay/Frankreich 2022. Regie und Drehbuch: Alejandro Loayza Grisi. Mit: Luisa Quispe, José Calcina, Santos Choque. 87 Min. Ab 9.2. im Kino.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal