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Wechsel, welcher Wechsel?

Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus imaginiert die CDU einen Wunsch nach konservativer Novellierung

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 6 Min.
Sich seiner Sache ganz schön sicher: Berlins CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner.
Sich seiner Sache ganz schön sicher: Berlins CDU-Spitzenkandidat Kai Wegner.

Nicht nur von konservativer Seite war am vergangenen Wahlsonntag ausgiebig die Rede davon, Berlin habe klar »den Wechsel gewählt«, wie es der – einstweilige – Wahlsieger Kai Wegner (CDU) in seiner Siegesrede formulierte. Ja, die CDU ist in dieser Wahl eindeutig die stärkste Partei geworden. Aber sieht man einmal genauer auf die Zahlen, muss man sich schon fragen, was das eigentlich für ein Wechsel sein soll, den »die Berlinerinnen und Berliner« angeblich so eindeutig gewählt haben.

Blickt man auf die Wählerwanderungen, so wurde dieser Wahlsieg maßgeblich von 60 000 Wähler*innen bestimmt, die von der SPD zur CDU wechselten, vornehmlich über 60 Jahre alt und durch die Themen »Sicherheit und Ordnung« motiviert (alle Daten vom Wahlforschungsinstitut Infratest dimap, soweit nicht anders angegeben). Wir haben es hier also offenbar mit vielen Menschen zu tun, die sich durch die rassistische Kampagne der Berliner und Bundes-CDU im Anschluss an die letzte Silvesternacht davon haben überzeugen lassen, dass sich die dringendsten Probleme der Stadt dadurch lösen lassen, dass die CDU-Fraktion die Vornamen von mutmaßlichen Straftäten erfährt, um sie dann vermeintlich noch besser als »kleine Paschas« einstufen zu können (wie CDU-Chef Merz sich bei Markus Lanz ausdrückte). Dass sich am Ende herausstellte, dass die von der Berliner Polizei veröffentlichten Zahlen ein stark verzerrtes Bild ergeben hatten, dürften dann leider weit weniger Menschen mitbekommen haben. Der Ton der Debatte war da längst gesetzt.

Schaut man nun noch einmal auf die Wahlstatistik, sieht man, dass eine noch größere Gruppe enttäuschter SPD-Wähler*innen, fast 80 000 Menschen, sich nicht etwa entschied, zur CDU (oder irgendeiner anderen Partei) zu wechseln, sondern stattdessen einfach gar nicht mehr zur Wahl zu gehen. Und in der Tat zeigen Umfragen, dass die Mehrheit der Menschen, die die CDU gewählt haben, dies nicht etwa aus Überzeugung für deren Positionen taten, sondern aus Enttäuschung über die Regierungsparteien. Klassische Protestwählerschaft also, für die Union sonst eher ungewöhnlich.

Was eine solche Resignation über die Politik allerdings mit sich bringt, ist bekannt. Bei der zweitniedrigsten Wahlbeteiligung der Berliner Geschichte, 63 Prozent, müsste – wie inzwischen so oft – eigentlich die Gruppe der Nichtwähler*innen mit Abstand die größte Fraktion im Abgeordnetenhaus bilden. Was sich bei genauerem Hinsehen jedoch als besonders pikant erweist, ist die Tatsache, dass die größte Gruppe innerhalb dieser Fraktion trotzdem keineswegs etwa aus Protest-Nichtwählern besteht, sondern aus Menschen, die gar nicht wählen dürfen, selbst wenn sie wollten. Das betrifft etwa all die »Berlinerinnen und Berliner«, die zwar hier leben, aber keinen deutschen Pass besitzen, immerhin 20 Prozent der Bevölkerung. (Auch dauerhaft hier lebende EU-Bürger*innen dürfen nur die Bezirksverordnetenversammlung wählen, nicht das Abgeordnetenhaus.) Außerdem betrifft es alle Minderjährigen, noch mal 13 Prozent der Stadt (auch 16- bis 18-Jährige dürfen nur an Kommunalwahlen teilnehmen).

Bezogen auf die Gesamtbevölkerung wurde die CDU in Berlin also nicht von knapp 30 Prozent der Menschen gewählt, sondern von zwölf Prozent. Ihr Vorsprung vor SPD und Grünen, die hier auf jeweils acht Prozent kommen, beträgt somit nicht fast zehn, sondern lediglich vier Prozent. Ja, in einer parlametarischen Demokratie wie unserer zählen nun mal nur die Stimmen derjenigen, die auch zur Wahl gehen (dürfen). Und die Verhältnisse der Parteien zueinander bleiben gleich, egal, ob man sie auf die Zahl der Wahlberechtigten bezieht oder auf die der Gesamtbevölkerung. Die Frage ist allerdings, inwiefern die Kriterien der Wahlberechtigung diese Verhältnisse verzerren.

Das lässt sich am einfachsten zeigen, indem man die Parteipräferenzen nach Altersgruppen sortiert. Hier zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit, CDU zu wählen, mit steigendem Lebensalter linear zunimmt. Am unbeliebtesten war die Union in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen – nämlich mit zwölf Prozent –, am beliebtesten bei den Über-70-Jährigen – mit 39 Prozent. Fast identisch sind die Befunde übrigens bei der anderen traditionellen Volkspartei, der SPD. Beinahe umgekehrt sieht es allerdings bei Linke und Grünen, aber auch bei der FDP aus – hier nimmt die Wahlbereitschaft mit steigendem Alter ab.

Würden nun also die Stimmen aller minderjährigen Kinder und Jugendlichen ebenfalls gezählt, indem etwa junge Familien für jedes Kind eine zusätzliche Stimme abgeben dürften, würde das die Verhältnisse wohl deutlich zugunsten des linken politischen Spektrums verschieben. Ein solches Familienwahlrecht wäre übrigens besonders deswegen geboten, weil gerade Kinder und Jugendliche diejenigen sind, die am längsten mit den Folgen politischer Entscheidungen von heute zu leben haben. Während umgekehrt beträchtliche Teile der Wählerschaft von CDU und SPD schon die nächste Wahl nicht mehr erleben werden. Ihnen allerdings droht niemand das Stimmrecht zu entziehen, um dadurch für mehr Generationengerechtigkeit zu sorgen.

Doch auch unter den Bedingungen eines nicht ganz so generationen- und einwanderungsgerechten Wahlsystems hat die rot-grün-rote Regierungskoalition – trotz durchgängiger Stimmverluste – ihre Mehrheit im Berliner Abgeordnetenhaus knapp behauptet. Diese Konstellation ist auch sonst weiterhin die beliebteste, sowohl bei den Wähler*innen als auch bei den Parteien selbst – und das, obwohl zugleich sehr viele mit der Arbeit des bisherigen Senats unzufrieden sind. Aber die Mehrheit derjenigen, die – sehr zu Recht – von den Regierungsparteien der letzten zwei Jahre (beziehungsweise Jahrzehnte!) enttäuscht sind, erwarten einen positiven Wandel bei den wirklich wichtigen Themen – bezahlbare Mieten, öffentlicher Verkehr, lebenswerte Stadt, funktionierende (sprich ausreichend finanzierte) Verwaltung – ebenso zu Recht gewiss nicht von der CDU.

Denn deren Rezepte haben viele Berliner*innen noch aus der Großen Koalition zwischen 2011 und 2016 in Erinnerung oder können sie sich ungefähr vorstellen: Mietenpolitik für Immobilienkonzerne (statt Umsetzung des Volksentscheids zur Vergemeinschaftung), Verkehrspolitik für Autofahrende (Stadtautobahn statt günstiger Nahverkehr), Migrations- und neuerdings auch Umweltpolitik mithilfe von Polizei und Ordnungsamt (wie vergangenen Sommer etwa am Weißen See in Pankow zu erleben).

Es stimmt: Die Regierungsparteien haben es der CDU nicht schwer gemacht, als Protestpartei zu punkten. Nicht nur liegt das Wahldesaster von 2021 in Verantwortung der SPD und ihres ehemaligen Innensenators Andreas Geisel, der als Konsequenz nicht etwa den Hut nehmen musste, sondern erneut (wie schon 2014 bis 2016) Senator für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen wurde und hier erneut die Vertrauenswürdigkeit der Koalition verspielte: Statt eines Vergemeinschaftungsgesetzes gab es eine Kommission. Aber auch die Erfolge des Senats gingen zu oft unter oder kamen nicht an: So gibt es zwar seit Januar ein 9-Euro-Nahverkehrsticket für Sozialleistungsempfänger*innen – das viele aber noch gar nicht nutzen können, weil sie Monate auf die vorzulegenden Bescheide warten müssen.

Sollte es nun also zu einer Neuauflage von Rot-Grün-Rot kommen – was nach allem Gesagten trotz der vielen Probleme zu wünschen ist –, dann muss sich einiges grundlegend ändern. Es braucht endlich glaubwürdige, mutige (Fort-)Schritte, die auch bei den Menschen ankommen, die nicht sowieso Mitte-links oder überhaupt wählen gehen. Sonst wollen die irgendwann tatsächlich noch einen Wechsel, den eigentlich niemand wollen kann.

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