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  • Abschlussbericht Documenta fifteen

Störung im Betrieb

Wie hast du’s mit Israel und dem Antisemitismus? Spätestens seit der Documenta fifteen ist das die Gretchenfrage des Kulturbetriebs. Der jüngst erschienene Abschlussbericht eines Expertengremiums sollte ein Wegweiser sein

  • Tom Uhlig
  • Lesedauer: 6 Min.

Die Documenta fifteen, die im letzten Sommer in Kassel stattfand, sorgte für einen der größten Antisemitismusskandale des Kulturbetriebs in der Geschichte der Bundesrepublik. Sie steht in der unrühmlichen Tradition von den Auseinandersetzungen um Rainer Werner Fassbinders Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« (1975), Martin Walsers berüchtigter Paulskirchen-Rede (1998) und Günther Grass Gedicht »Was gesagt werden muss« (2012). Wie in diesen vergangenen Debatten stoßen auch hier antisemitische Inhalte auf Indifferenz und Abwehr. Weder in den Monaten und Wochen vor Beginn der Kasseler Kunstschau, als die ersten Warnzeichen ignoriert wurden, noch während deren Laufzeit ist es den Ausstellungsmachern oder der Politik gelungen, konsequent Antisemitismus zu benennen und zu bekämpfen.

Seit Kurzem liegt nun der Abschlussbericht des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der Documenta fifteen vor. Das Gremium wurde Ende Juli 2022 berufen, eine Lageeinschätzung und Handlungsempfehlungen zu liefern. Bis auf eine folgenreiche Presseerklärung hatte es sich bis zur Publikation des Berichts mit Äußerungen zurückgehalten. Das nun gefällte Urteil ist niederschmetternd. »Die Auseinandersetzung mit Antisemitismusvorwürfen und Antisemitismus auf der Documenta fifteen war über weite Strecken von Ignoranz, Verharmlosung und Abwehr geprägt«, heißt es.

Allerdings ist der Bericht dennoch bemüht, Konsens zu produzieren. Offensichtlich soll er keine Streitschrift sein, sondern allgemein anerkannt werden. So erfolgt eingangs der Versuch einer »Minimaldefinition des israelbezogenen Antisemitismus«: Es sollen gemeinsame Nenner zwischen der konkurrierenden Arbeitsdefinition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance und der Jerusalem Declaration on Antisemitism gefunden werden. Letztere Definition ist in Reaktion auf erstere entstanden und relativiert insbesondere die Kritik an der Israel-Boykottbewegung BDS.

Das Bestreben, konträre Perspektiven zu integrieren, zeigt sich auch im Kapitel über das künstlerische Konzept des indonesischen Kurator*innen-Teams Ruangrupa. Es liest sich streckenweise wie ein Werbetext. Unter anderem wird die Haltung von Ruangrupa gelobt, »kuratorische Macht abzugeben« und euphorisch geschlossen: »Hinter diesem Anspruch wird keine künftige Documenta zurückbleiben können, in dieser Hinsicht ist die Documenta fifteen wahrlich ein Game Changer.« An anderer Stelle wird dann allerdings kritisiert, dass Ruangrupa seinem Konzept der »organisierten Verantwortungslosigkeit« – also den Künstler*innen möglichst viel Freiraum zu geben –, gerade nicht nachgekommen ist, als es um eine antisemitismuskritische Arbeit ging: Diese wurde vom Kurator*innenteam von der Schau ausgeschlossen.

Tatsächlich gab es, dieser Widersprüchlichkeit entsprechend, Konflikte im Gremium. Zum Teil waren die unterschiedlichen Perspektiven der Mitglieder nicht mehr zu vereinen. Die Wissenschaftlerin Elsa Clavé und der Wissenschaftler Facil Tesfaye sind ausgeschieden, »weil sie durch den Fokus des Gremiums auf Antisemitismus ihre Perspektiven aus der Postkolonialismusforschung nicht genügend vertreten sahen«, wie es in dem Bericht heißt. Auch auf der Presseerklärung, die vom Gremium im September 2022 anlässlich der Kritik an der Filmreihe »Tokyo Reels« veröffentlicht wurde, fehlen sie genauso wie Marion Ackermann.

Die übrigen Mitglieder finden in ihrer Einschätzung antisemitischer Kunstwerke dann klare Worte. Verdienstvoll ist der Bericht vor allem wegen seiner genauen Rekonstruktion antisemitischer Bildsprache und einer Chronik der öffentlichen Diskussion. Kenntnisreich werden inkriminierte Bilder und Filme sowohl werkimmanent analysiert als auch im Kontext antisemitischer Ikonographie und ihrer Entstehungsgeschichte. Im Fokus stehen die Arbeiten von vier Künstler*innengruppen: Das Banner »Peoples Justic«von Taring Padi, die Filmzusammenstellung »Tokyo Reels« von Subversive Film, der Bilderzyklus »Guernica Gaza« von Mohammed Al-Hawajri und die Broschüre »Présence de femmes«, die vom Kollektiv Archives des luttes des femmes en Algérie ausgestellt wurde. Jede dieser Arbeiten wurde in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Dabei wurde jedoch lediglich »Peoples Justice« beinahe unisono als antisemitisch abgelehnt. Die anderen Arbeiten schienen dem Großteil der interessierten Öffentlichkeit mindestens diskutabel. Der Bericht gibt sich Mühe, diese Ambivalenz wiederzugeben, gelangt aber zu eindeutigen Urteilen.

Zur Filmserie »Tokyo Reels«, die historische antiisraelische Propagandafilme versammelt, heißt es, dass viele Videos »antizionistische, proterroristische und zuweilen antisemitische Ansichten« teilten. »Guernica Gaza« wird kritisiert, weil der Zyklus »die historischen jüdischen Verbindungen zum Land Israel leugnet« und antisemitische Motive wie den »Kindermörder«-Vorwurf in eine einseitige Konfliktdarstellung integriere. Die Karikaturen in der Broschüre »Présence de femmes« arbeiten laut Bericht teilweise mit visuellen antisemitischen Codes und delegitimieren den Staat Israel.

Damit räumt der Bericht die inhaltlichen Unklarheiten aus, die den Werken bisweilen nachgesagt wurden. Dazu zeichnet er ein ziemlich desolates Bild der Organisation der Documenta fifteen und des Umgangs ihrer künstlerischen Leitung mit Antisemitismus. Das Verhältnis zu Ruangrupa soll vor allem nach der Forderung des Gremiums, die Aufführung von »Tokyo Reels« zu stoppen, problematisch geworden sein. Die Chronik des Berichts zeichnet nach, wie Ruangrupa daraufhin zusammen mit einigen Künstler*innen eine Erklärung veröffentlichte, in der sie dem Gremium Rassismus und Zensur unterstellten und sich in antizionistischen Exkursen ergingen. Unterstützt wurde die Erklärung auch von der Findungskommission, die Ruangrupa ausgewählt hatte. Wenig später tauchte eine Plakatreihe auf der Documenta auf, die eine Nähe zur BDS-Kampagne vermuten ließ. Zu lesen waren Slogans wie »BDS: Being in Documenta is a Struggle«. Weder die Vorführung von »Tokyo Reels« noch die Plakataktion wurden von Ruangrupa oder der Geschäftsführung der Documenta unterbunden.

Immer wieder bemängelt der Bericht, dass jüdische Perspektiven – so unterschiedlich diese auch sein mögen –, kaum Gehör fanden, wenn sie Antisemitismus im Zusammenhang mit der Kasseler Kunstschau kritisierten. Die Kritik aus der jüdischen Gemeinde Kassel, dem Sara-Nussbaum-Zentrum in Kassel und des Zentralrats der Juden in Deutschland hatte zu keiner grundlegenden Einsicht geführt. Lediglich im Falle von »Peoples Justice« wurde Kritik an Antisemitismus nicht unmittelbar mit Gegenvorwürfen begegnet. Hier habe laut dem Bericht eine »institutionelle Verantwortungsstruktur« funktioniert. Dass diese Verantwortungsstruktur während der weiteren Vorfälle erodierte, wie der Bericht feststellt, kann darauf zurückgeführt werden, dass nur bestimmte Formen des Antisemitismus die öffentliche Wahrnehmungsschwelle überschreiten. Solange sich Antisemitismus an gewisse Codierungen hält, wie zum Beispiel den Umweg über Israel, gilt er in Deutschland zumindest als diskussionswürdig.

Und nun? Der Bericht schlägt organisatorische Änderungen der Documenta vor, um der »Verantwortungsdiffusion« und der »Informalisierung« von Verfahren zu begegnen. Es ist zu hoffen, dass er damit einen Kulturbetrieb stört, der sich in den vergangenen Jahren darin eingerichtet hat, die Verantwortung für Antisemitismus abzugeben. Die lapidare Haltung gegenüber (israelbezogenem) Antisemitismus wurde etwa 2020 von der Initiative Weltoffenheit GG 5.3. vorweggenommen. Dieser Zusammenschluss von Leitungspersonen großer Kultureinrichtungen wie dem Deutschen Theater Berlin, dem Berliner Humboldt-Forum und dem Goethe-Institut monierte, der Bundestagsbeschluss, BDS keine staatlichen Räume und Gelder zur Verfügung zu stellen, erschwere seine Arbeit. Selbst schließe man sich der Kampagne nicht an, befürchte aber, dass »wichtige lokale und internationale Stimmen aus dem kritischen Dialog ausgegrenzt werden«. Eine solche, das Problem kleinredende Einstellung war auf der Documenta fifteen nicht möglich: Zu offensichtlich war der zur Schau gestellte Antisemitismus in dem Banner »Peoples Justice«.

Zwar ist der Irrglaube, man habe es bei BDS mit einer diskutablen Bewegung zu tun, in einigen anerkannten deutschen Institutionen fest verankert – und hat so das Fiasko der Documenta fifteen mitermöglicht. Doch vielleicht kann die Einschätzung des Gremiums zumindest ein wenig zur Irritation dieser Haltung beitragen.

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