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Wellness für die Künstlerseele

Die Berlinale eröffnete mit »She Came to Me« – einem Film, der voller guter Absichten steckt und doch keinen bleibenden Eindruck hinterlässt

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 5 Min.
Schwelgt im Selbstmitleid: Der Komponist Steven Lauddem (Peter Dinklage)
Schwelgt im Selbstmitleid: Der Komponist Steven Lauddem (Peter Dinklage)

Am Vorabend der Berlinale irre ich zur Pressevorführung des Eröffnungsfilms über den Potsdamer Platz, der einer schwer erreichbaren Insel gleicht. Die U-Bahn fährt wegen Bauarbeiten gar nicht, der Ersatzbus steckt im obligatorischen Stau. Die Straße vor dem Berlinale-Palast wird gerade aufgerissen und ist mit hohen Sichtschutzwänden zugestellt. Ein Zuschauermagnet sieht anders aus, zumal Berlinale-Karten dieses Jahr nur noch online buchbar sind. Auch akkreditierte Pressevertreter brauchen diese, was man einen unfreundlichen Akt nennen kann. Der Berlinale-Bär ist als Logo von den Plakaten verschwunden – wenn das mal kein Omen ist.

Der Eröffnungsfilm, die Komödie »She Came to Me« der US-Regisseurin Rebecca Miller, ist das erste Mal übrigens nicht unter Wettbewerb gelistet (dort liefen die Eröffnungsbeiträge meist mit dem Etikett »Außer Konkurrenz«), sondern in der Rubrik »Berlinale Special«. Oberstes Kriterium eines Berlinale-Eröffnungsfilms ist seit je sein Unterhaltungswert für die anwesende Prominenz, die nicht mit radikalem Autorenkino traktiert werden will, sondern gekommen ist, sich im Kino wohlzufühlen. Und so wirkt Millers Werk auch wie eine Beilage zur seelischen Gesundheit in »Die Zeit«: jederzeit anspruchsvoll zeitgeistig, aber keinesfalls heraus- oder überfordernd. Gut gemachtes Wellness-Kino, das man bis zur nächsten Berlinale-Eröffnung schon wieder vergessen haben wird.

Der Film hat einen Plot, der immerzu laut schreit: Ich bin perfekt ausgedacht! Stimmt ja auch, handwerklich lässt sich gegen »She Came to Me« nichts sagen. Eine Komödie mit Sinn für mittelstandsbürgerliche Absurditäten. Aber ist es auch der avisierte Künstlerfilm?

Immerhin steht ein Komponist als sensible Künstlerfigur im Mittelpunkt. Alle diese Leute tragen eine Oper in sich! Zu dieser Beobachtung ist er noch in der Lage, während er derangiert durchs Foyer des Konzerthauses läuft. Er wirkt wie auf der Flucht. Vor den Menschen, die dem Kleinwüchsigen neugierig nachschauen, wobei manche ihm respektvoll zunicken, oder aber vor sich selbst?

Nach seinem letzten Erfolg war er in eine tiefe Depression gefallen. Da scheint er seinem Verhalten nach immer noch drinzustecken. Menschen sind ihm ein Gräuel und außerdem erwartet man ein neues Meisterwerk von ihm. So schleicht er sich bei Empfängen, zu denen er gehen muss, sofort wieder weg. Er leidet, er hadert, er gefällt sich im Selbstmitleid. Peter Dinklage, ein grandioser ausdrucksstarker Schauspieler, der wegen seiner Kleinwüchsigkeit bislang meist nur in Nebenrollen besetzt wurde, spielt das klagende Genie als jemanden, der weniger als todkrank und mehr als ein Hypochonder ist. Ja, er steckt in der Krise. Krise ist, wenn es keine Zukunft mehr zu geben scheint, alle Dinge, auch die frischen, bloß noch ranzig schmecken. Da scheint es praktisch, dass seine Psychotherapeutin auch seine Frau ist. Genauer, erst war sie seine Psychotherapeutin, dann wurde sie seine Frau.

Vielleicht nicht die ideale Reihenfolge, zumal sie davon träumt, Nonne zu werden. Sie hat aus einer früheren Verbindung einen achtzehnjährigen Sohn, der zu talentiert ist, um sich in der Schule anstrengen zu müssen. Er probiert mit seiner sechzehnjährigen Freundin gerade den ersten Sex. Der Stiefvater des Mädchens, ein humorloser Machtbold, der als Schreiber bei Gericht arbeitet und lange schon auf seinen großen Auftritt wartet, rekonstruiert die Rechtslage so: Das ist Kindesmissbrauch! Er zeigt den jungen Mann an.

Die Mutter der Freundin des Sohnes ist zu allem Überfluss die Putzfrau im Hause des Komponisten, man sucht nun also gemeinsam einen Ausweg aus dieser heiklen Situation und die lautet im puritanischen Amerika immer: Heiraten! Denn Sex mit Minderjährigen ist zwar verboten, Heiraten jedoch erlaubt.

Obwohl wir uns, als dies passiert, gerade noch in der äußersten Peripherie der Handlung befinden und noch lange nicht zum Kern des Films – der besagten Schaffenskrise des Komponisten – vorgestoßen sind, wirkt alles schon wie ein Potpourri von Einfällen aus einem Drehbuchseminar. Man stelle sich zur feierlichen Eröffnung dann noch die Liveschaltung nach Kiew zu Wolodymyr Selenskyj vor, der auf der Berlinale als Hauptheld der Dokumentation »Superpower« präsent ist – und muss konstatieren: Hier sind der guten Absichten zweifellos zu viele, das ist schlecht für die Kunst. Zum Glück versteht sich die Regisseurin aber auf virtuos gebaute Szenen, sodass sich der Film doch ein wenig vergnüglicher anschauen als nacherzählen lässt.

Doch zurück zum Komponisten in der Schaffenskrise. Wie soll man Musik komponieren, wenn einem das Leben fad schmeckt? Rebecca Miller nimmt diese Frage so ernst, wie man die Kunst nehmen sollte, also etwas weniger ernst als der mit der Welt hadernde Künstler. Eine Gratwanderung auf der polierten Oberfläche des Mainstreams. Alles wirkt wie das Satyrspiel zu Claude Sautets »Die Dinge des Lebens« von 1970, wo dem nach einem Autounfall sterbenden Michel Piccoli noch einmal Szenen aus seinem Leben vorbeiziehen, vor allem jene aus seinem Dreiecksverhältnis zur Ehefrau und zur Geliebten.

Auch der Komponist kommt zu einer Geliebten, doch wider Willen. Sein Hund muss an die frische Luft, darum trottet er mit ihm morgens müde um die Ecken. Plötzlich bekommt er Lust auf einen Whiskey, landet in einer Schifferkneipe samt Schiffskapitänin. Die ist allerdings wegen Stalkings vorbestraft, also vermutlich übermäßig anhänglich. Trotzdem lässt er sich von ihr auf ihren Schlepper mitnehmen – und erlebt dort jenes heftige Abenteuer, dass ihm die Töne und Bilder zu der von ihm lang erwarteten neuen Oper gibt. Ein ungewollter Kreativitätsschub mit Folgen.

Dieser Film zeigt lauter Menschen, die sich und anderen im Weg stehen. Es ist ein langer Weg zum freien Geist, der alle unfrei machende Konvention hinter sich lässt und skurril wirkende Folgen nicht scheut. Der etwas penetrant als Dauerton erklingende Ruf, seinem Traum zu folgen, setzt jedoch voraus, dass man nicht verlernt hat, seine eigenen Träume zu träumen. Irgendwie, so scheint mir, sind solche Träume sehr viel simpler und dabei schmerz- und freudvoller zugleich als in »She Came to Me« dargestellt. Hier fällt alles in die Kategorie »optimiertes Mittelmaß«.

»She Came to Me«, USA 2023. Regie und Buch: Rebecca Miller. Mit: Peter Dinklage, Marisa Tomei, Joanna Kulig, Brian d’Arcy James, Anne Hathaway, Harlow Jane, Evan Ellison. 102 Min. Weitere Vorstellungen: Fr, 17. 2., 14:30 Uhr und 17: 30 Uhr, Verti Music Hall. Tickets auf der Website der Berlinale zu erwerben.

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