Häuserkampf und Haushaltswaren

Nichts ist sicher – und nichts geht voran: Der große Erfolg von Zerocalcare als linker Comiczeichner in Italien

  • Samuel Logan
  • Lesedauer: 6 Min.
Kommst du mit in den Alltag? Er sieht aus wie dein eigener: Zerocalcare (l.) 2021 in Mailand vor seinem eigenen Werk.
Kommst du mit in den Alltag? Er sieht aus wie dein eigener: Zerocalcare (l.) 2021 in Mailand vor seinem eigenen Werk.

In diesem Text geht es darum, wie man es trotz unkonventioneller Biografie zu sagenhaftem Erfolg bringen kann, wenn man einfach sein Ding durchzieht: Let’s go! Nein, dieser Text handelt davon, wie ein linksradikaler Künstler die italienischen Massen begeistert, weil Italien so sagenhaft links ist: Avanti Popolo! Ach was, dies ist ein Text über den nur scheinbaren Widerspruch zwischen einem sich human gebenden Kulturbetrieb und der inhumanen Realität der bürgerlichen Gesellschaft: Adorno!

Jedenfalls geht es in diesem Text um den italienischen Comiczeichner Zerocalcare, dessen autobiografisch inspirierte Bücher in Italien generationenübergreifend reißenden Absatz finden, dem Netflix eine Serie finanziert hat und dem zurzeit eine Ausstellung in Mailand gewidmet ist.

Comics und Museen – eine schwierige Angelegenheit. Das schnelllebige, billige Medium will nicht so recht zur kontemplativen Betrachtung in Ausstellungshallen passen – außer die Werke sind durch ihre kulturelle Wirkung und ihren kommerziellen Erfolg kanonisiert oder wie Graphic Novels formal und inhaltlich an die Hochkultur angepasst (was sie oft langweilig macht).

Letzteres ist bei Zerocalcare nicht der Fall: Sein Stil ist nicht feinfühlig-detailverliebt, kindlich-naiv oder impressionistisch-minimalistisch wie die meisten Comics für Leute mit Abitur, sondern grotesk-überzeichnend und eindeutig dem Underground verpflichtet statt der Kunsthochschule. Eine solche hat Zerocalcare nie besucht wie auch sonst keine Hochschule, und seine Erfahrung mit Lohnarbeit beschränkt sich auf Tätigkeiten als Nachhilfelehrer und ein paar andere Jobs. Der Autodidakt ist eng mit der Punk-, Hausbesetzer- und Antifaszene verbunden – eine »waschechte Zecke« (Selbstbezeichnung), die bürgerlich Michele Rech heißt, 1983 in der Toskana geboren wurde und in Rom aufgewachsen ist.

Was seinen Erfolg und seine Hofierung durch bürgerliche Medien tatsächlich erstaunlich macht. Unter seinen eine Million zählenden Followern auf Instagram sind viele kulturell unauffällige »Bookstagrammerinnen« und Menschen, die ihre selbst gemixten benzinfreien Cocktails präsentieren und Strandfotos statt solche von fliegenden Pflastersteinen posten. Auch das Publikum in der Ausstellung ergibt weniger das Bild eines linksradikalen Szenetreffens als das eines linksliberalen Familientreffens: billig, aber modisch gekleidete Teenagerinnen, hippe Mittdreißigerpärchen mit Babys und deutlich weniger hippe ältere Ehepaare mit mutmaßlich »Repubblica«-Abonnement.

Man sieht: Zerocalcares Erfolg steht vielleicht nicht im Widerspruch zu seinen politischen Aussagen, ist ihnen aber auch nicht geschuldet. Seine zahlreichen Plakate für Demos, Punk-Konzerte oder zur Erinnerung an eingekerkerte Genoss*innen hängen hübsch aufgereiht in der Ausstellung – eher Möblierung als Mobilisierung. Zu dem Zorn der auf den Postern abgebildeten Figuren über die Verhältnisse, ihrer Freude über Krachmachermusik oder eine erfolgreiche Hausbesetzung und ihrer politischen Konsequenz ist das Ausstellungspublikum wohl kaum fähig.

Aber berühmt wurde Zerocalcare ja auch nicht als linksradikaler Szenezeichner, sondern als Blogger und Autor kurzer Geschichten über sein prekäres Leben im römischen Stadtteil Rebibbia. Dieses Viertel ist in etwa zu vergleichen mit Frankfurt-Preungesheim: Hier gibt es ein Gefängnis und sonst nicht viel. »Jeder Stadtteil hat seinen Rhythmus. Rebibbia hatte für mich einen langsamen Rhythmus, wie das Genöle von Radiohead. Wie Karma Police«, so der Erzähler in Zerocalcares Buch »Dodici«. In Rebibbia endet die Metro, und dass Pier Paolo Pasolini hier gewohnt hat, wissen wohl die wenigsten Bewohner*innen, von denen viele in diesen Geschichten breites Romanaccio sprechen, den von Kraftausdrücken gesättigten Dialekt der römischen Unterschicht (was Pasolini sicher gefallen hätte).

Es tummeln sich hier allerlei seltsame Gestalten, allen voran Zeros personifiziertes Gewissen, ein Gürteltier. Wobei das Wort Gewissen wohl nicht ganz angebracht ist: Gleichzeitig extrem defätistisch und alarmistisch, warnt es Zero beispielsweise beim Einkaufen davor, ausnahmsweise eine 25 Cent teurere Sorte Milch zu kaufen, da dies ein Zeichen wäre, dass er der westlichen Dekadenz anheimgefallen sei, und seine zukünftigen Kinder, auf diese Weise erzogen, sich schon als Minderjährige bei Reality-Shows bewerben würden. Abgründe lauern überall. Oder aber es rät ihm, lieber in seiner Wohnung Feuer zu legen, statt aufzuräumen. Es handelt sich also eher um einen schwierigen eingebildeten Freund.

Zeros tatsächliche Freunde entsprechen ebenfalls kaum gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen. Secco verdient bzw. verliert sein Geld beim Online-Poker und weiß auf Probleme nur zwei Antworten: Böller zünden oder Eis essen. Das sexistische und libidinöse Wildschwein wiederum sorgt permanent für Fremdscham. Als lebenstüchtig kann allein die toughe, pragmatische Sarah gelten.

Zum Reiz dieser Geschichten trägt erheblich Zerocalcares interessantestes Stilmittel bei: das Darstellen von Personen als Figuren aus berühmten Zeichentrickfilmen oder Videospielen (vorgeblich, um ihre Privatsphäre zu schützen). So sieht Zeros Mutter aus wie Lady Kluck aus »Robin Hood« von Disney, ein besonders nerviger Kontrahent in einer Online-Auseinandersetzung wird als Barney der Dinosaurier dargestellt und so weiter. Daneben verwendet er immer wieder Personifikationen, was etwa zu einem interessanten Dialog mit einer menschengroßen Playstation-1-Speicherkarte führt. Tatsächlich gesteht Zerocalcare offen ein, dass sein linkes Weltbild von Disney-Filmen, Animes und »Star Wars« geprägt wurde. Auch das ist wohl Dialektik – und eine angenehme Abwechslung zum linken Großdenker*innen-Gestus.

Trotz dieser vordergründigen Unbedarftheit gelingt Zerocalcare in seinen Geschichten dreierlei: die Absurdität der Normalität zu zeigen, das Tiefgründige im anscheinend Banalen und das Allgemeine im Partikularen. Zum inoffiziellen Sprecher aller jüngeren Generationen in Italien wurde er vor allem durch sein Thematisieren der oft schwer erträglichen fluiden Statik des prekären Lebens: Nichts ist sicher und doch geht nichts voran. Rebibbia ist überall, zumindest in Italien: »Das Viertel selber gewöhnt dich daran, zu warten (…). Vielleicht, weil das Gefängnis von Rebibbia die größte Wartefabrik Europas ist. Körper drinnen, die darauf warten, herauszukommen. (…) Monatelanges, jahrelanges, lebenslanges Warten« – auch darauf, ein Leben als mündiger Erwachsener führen zu können, anstatt mit Ende 30 noch materiell von den Eltern abhängig zu sein, Bullshit-Jobs hinterherzurennen oder einen befristeten Arbeitsvertrag nach dem anderen zu bekommen.

Vielleicht sollten Zerocalcares Leser*innen seinen Plakaten mehr Aufmerksamkeit widmen. Doch obwohl der Zeichner einen dezidiert linken Alltag zeigt, nimmt das Publikum wohl hauptsächlich den Alltag wahr. Die Dissidenz seiner Figuren gerinnt zu harmlosen Geschichten über sympathische Antihelden, und der Kreislauf schließt sich: Zerocalcare wurde durch den bunten Auswurf der Kulturindustrie zum Linken, aber sein Werk wird wieder zur Ware. Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen. Im Shop der Ausstellung zieren Zeros Figuren die unterschiedlichsten Dinge, unter anderem absurderweise Tischmatten, wo doch Zero meist fernsehend auf dem Sofa und ohne Teller isst. Auf der Toilette der Ausstellungshalle hingegen ist der Seifenspender leer. Kapitalismus halt.

Dem Zeichner selber ist das mulmige Gefühl, das all dies bereitet, nicht anzulasten: Persönlich ist er von seinem Erfolg überrascht, überfordert und oft auch genervt; und auf politischer Ebene ist es auch nicht ohne Wert, dass ein Star des Medienbetriebes sich konsequent solidarisch mit militanten Aktionen zeigt, von den Straßen Roms bis Rojava. Darauf ein Eis – oder einen Böller.

Die Ausstellung »Dopo il botto« ist bis zum 23. April in Mailand in der Fabbrica del vapore zu sehen (www.fabbricadelvapore.org). Auf Deutsch sind von Zerocalcare die Comicreportage »Kobane Calling« und die Graphic Novel »Vergiss meinen Namen« im Avant-Verlag erschienen.

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