Reichstagsbrand: Im Zweifel für Marinus van der Lubbe

In der Nacht vom 27. zum 28. Februar 1933 brannte der Reichstag in Berlin

  • Matheus Hagedorny
  • Lesedauer: 5 Min.
Qui bono? Der Reichstag brennt - im Interesse der Nazis
Qui bono? Der Reichstag brennt - im Interesse der Nazis

Auch 90 Jahre danach ist der Reichstagsbrand ein Streitobjekt der Zeitgeschichte. Unbestritten wurde der 23-jährige Niederländer Marinus van der Lubbe am Abend des 27. Februar 1933 kurz vor dem Ausbruch des Feuers im Reichstag aufgegriffen. Klar ist auch, dass der Hauptverdächtige nach seiner Festnahme und vor Gericht zugab, der Täter zu sein. Doch weiterhin gibt es begründete Zweifel, den Linksradikalen aus Holland für den alleinigen Urheber des Großbrandes zu halten, der eine bis dahin beispiellose Terrorwelle gegen die Linke auslöste.

Hartnäckig hält sich in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft seit den 1960er Jahren die Meinung, die Brandstiftung wäre das Werk eines Einzelnen. Der Historiker Alexander Bahar und der Physiker Wilfried Kugel halten dagegen. In ihrer »Geschichte einer Provokation« (2013) argumentieren sie mithilfe forensischer Daten und Indizien gegen die Alleintäterschaft van der Lubbes. Diese Version bezweifelt auch die akribische Studie des Professors für Geschichte an der City University of New York, Benjamin Carter Hett, die 2016 in deutscher Sprache erschien. Die »Wiederaufnahme eines Verfahrens«, so der Untertitel, findet nur in der englischsprachigen Geschichtswissenschaft statt. Ein Ende der Kontroverse ist nicht in Sicht. Schlagende Beweise dafür, dass die Nazis hinter dem Anschlag steckten, wie es Bahar und Kugel annehmen, gibt es nicht.

Der Redakteur für Zeitgeschichte der »Welt«, Sven Felix Kellerhoff, Vertreter der Alleintäterthese, bezeichnet die Zerstörung des Reichstags treffend als »willkommene Brandstiftung«. Gewiss war der Anschlag ein idealer Vorwand, um die »Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat« zu erlassen, die bürgerliche Grundrechte aufhob. Das Strafmaß für Brandstiftung und politische Sabotage wurde nachträglich zur Todesstrafe heraufgesetzt. Die mörderische Terrorkampagne der Nazis, die sich nach dem Brand allen voran gegen Kommunisten richtete, konnte sich des Zuspruchs von weiten Teilen des konservativen Bürgertums gewiss sein. Tausende wurden in Gefängnisse, Folterkeller und provisorische Konzentrationslager verschleppt.

Hitler und dem Reichstagspräsidenten Göring reichte es nicht, die Schuld für den Brand allein dem geständigen van der Lubbe anzulasten. Die Verhandlung vor dem Reichsgericht von Leipzig zwischen September und Dezember 1933 sollte zum Schauprozess gegen einen kommunistischen Umsturzversuch werden. Eine Tatbeteiligung konnte den vier angeklagten kommunistischen Kadern nicht nachgewiesen werden. Dass der Prozess unter den Augen der internationalen Presse zum propagandistischen Debakel wurde, lag vor allem am bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitroff, der die Propagandaabsichten der Nazis mit rhetorischem Geschick durchkreuzte. Die KPD ging zum medialen Gegenangriff über und trug im »Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror« Fakten, Indizien und Mutmaßungen zusammen, um die Nazis als wahre Urheber des folgenschweren Brandanschlags zu überführen. Die international weit verbreitete Schrift, die auch die Deutung der DDR-Historiographie stark beeinflusste, denunzierte van der Lubbe dabei allerdings als homosexuellen Handlager. Niederländische Genossen antworteten mit dem »«Rotbuch, das die aufrichtigen politischen Motive des Widerstandskämpfers herausstellen wollte.

Es lohnt sich, Marinus van der Lubbe als den stürmischen Antifaschisten ernst zu nehmen, der er gewesen ist. Der gelernte Maurer aus Leiden, der nach einem Arbeitsunfall kaum mehr sehen konnte, profilierte sich als Agitator von Arbeitslosen und Verfechter der direkten Aktion. 1931 hatte er die moskautreue KP Hollands im Streit verlassen und Anschluss bei anarchistischen und rätekommunistischen Gruppen gefunden. Der kräftige Mann, den seine Freunde nach dem US-amerikanischen Boxweltmeister Dempsey nannten, war zu Fuß nach Berlin gekommen, um die Linke mittels Propaganda der Tat aufzurütteln. Seine rastlosen Berliner Tage lassen sich bislang nicht lückenlos rekonstruieren. Klar ist, dass der mittellose niederländische Aktivist fest entschlossen war, zu spektakulären Aktionen gegen die Machtübernahme der Nazis in Deutschland aufzurütteln. Am 25. Februar versuchte er eigenhändig, am Wohlfahrtsamt Neukölln, am Berliner Rathaus und am Berliner Schloss Brände zu legen – jedesmal vergeblich. Bei seinen fruchtlosen Agitationsversuchen in der Reichshauptstadt traf der ungestüme und ungehaltene van der Lubbe auch auf abwägende KP-Kader, die in der Propaganda der Tat vor allem eine Gefahr für die eigene Organisation sahen – nicht zu Unrecht, wie die fatalen Folgen der Brandstiftung zeigen.

Van der Lubbe selbst machte während der Prozesstage auf Beobachter einen desolaten Eindruck. Er schien wie weggetreten zu sein und war kaum ansprechbar, was für die zeitgenössische Vermutung spricht, dass er unter Drogen gesetzt wurde. Nach einem Verfahren, das von massiver Beeinflussung durch das Hitlerregime geprägt war, folgten die Urteile: Marinus van der Lubbe erhielt als einziger die Todesstrafe. Die übrigen Angeklagten wurden freigesprochen, aber weiter interniert. Am 10. Januar 1934 starb Marinus van der Lubbe unter dem Fallbeil. Sein Leichnam lag in einem anonymen Grab auf dem Leipziger Südfriedhof – bis zum Januar 2023.

Seit Jahrzehnten wird, unter anderem durch Bahar und Kugel, gefordert, den Leichnam van der Lubbes exhumieren und untersuchen zu lassen. Doch erst jetzt, bald 100 Jahre nach dem Justizmord, versuchen Leipziger Gerichtsmediziner die Mutmaßungen über die Haftbedingungen aufzuklären.

Juristisch ist Marinus van der Lubbe erst 2007 mit dem NS-Unrechtsurteileaufhebungsgesetz rehabilitiert worden. Geschichtspolitisch liegt in der Auseinandersetzung um den Reichstagsbrand weiter Sprengstoff. Das hat Folgen für die öffentliche Erinnerung an den Widerstandskämpfer aus Holland. Eine niederländische Initiative versuchte in den späten 1990ern für van der Lubbe eine Gedenkstätte an drei Orten zu schaffen. Während die Blöcke am Leipzig Südfriedhof und van der Lubbes Heimatstadt Leiden seit 1999 platziert sind, durfte der Stein am Berliner Reichstag bis heute nicht abgelegt werden.

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