Kretschmers Krieg und Frieden

Sachsens Regierungschef vertritt noch immer Positionen, die ihm den Ruf des »Putin-Verstehers« eintragen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 6 Min.

Als kürzlich neue Erkenntnisse zur Zerstörung der Nordstream-Pipelines in der Ostsee publik wurden, sorgte das für Aufregung in der deutschen Öffentlichkeit. Auch Michael Kretschmer meldete sich. Die Hintergründe aufzuklären, sei wichtig, sagte Sachsens CDU-Regierungschef. Noch wichtiger sei aber etwas anderes: die Sicherung des unversehrten Strangs von Nordstream 1. Die Bundesregierung sei »in der Pflicht, die Pipeline für die Zeit nach dem Krieg zu retten«. Dann könnten wieder Erdgas oder Wasserstoff fließen. Sofort gab es Widerworte. Solange Russland seine »neoimperialen Ambitionen« nicht aufgebe, sagte der Politikwissenschaftler Carlo Massala von der Bundeswehruniversität München, »wird da nichts fließen«.

Es war ein Schlagabtausch, wie er in den fast 13 Monaten seit Beginn des Krieges in der Ukraine regelmäßig wiederkehrt – und in denen sich Kretschmer mit seiner Haltung bundesweit einen zweifelhaften Ruf erarbeitet hat. Während die meisten deutschen Politiker unversöhnliche Töne gegenüber Russland und Präsident Wladimir Putin anschlugen, fiel der sächsische »Nebenaußenminister«, wie ihn die »FAZ« nannte, früh mit der Forderung auf, »Maß und Mitte« bei Reaktionen zu wahren und einen »Ausweg für alle Beteiligten« offenzuhalten. Später warb er für ein »Einfrieren« des Kriegs, was viele mit Gebietsabtretungen der Ukraine gleichsetzten.

Andrij Melnyk, damals noch deren Botschafter in Berlin, warf Kretschmer vor, er würde »mit Kumpelchen Putin kuscheln«. Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz sah in Kretschmer das »Russland-Problem« der CDU verkörpert. Die Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht lobte ihn indes als »Stimme der Vernunft«.

Die Deutung von Kretschmers Kurs als »Kuschelei« mit Putin wird durch ein oft gedrucktes Foto befördert. Es zeigt ihn mit einem altmodischen Telefonhörer in der Hand auf einem Biedermeiersofa vor dunkler Holzvertäfelung und entstand im April 2021 in Moskau. Dorthin war Kretschmer gereist, um eine Ausstellung zu eröffnen, aber auch in der Hoffnung, sich erneut mit Putin treffen zu können, so wie 2019 am Rande des Weltwirtschaftsforums in St. Petersburg.

Damals – die Besetzung der Krim währte bereits fünf Jahre, der Westen hatte mit Sanktionen reagiert – sprach Kretschmer noch immer davon, dass enge wirtschaftliche Verbindungen ein »guter Schutz gegen Allmachtsträume« seien. Zudem lud er den russischen Präsidenten, der von 1985 bis 1989 als KGB-Offizier in Dresden stationiert gewesen war, nach Sachsen ein. Putin kam nicht, statt eines Treffens gab es nur ein halbstündiges Telefonat. Danach war spöttisch vom »teuersten Ortsgespräch« der sächsischen Politik die Rede und Kretschmers Ruf als »Putin-Versteher« gefestigt.

Aus der Nähe betrachtet ist das Bild nicht ganz so eindeutig. Am vergangenen Dienstag etwa stand Kretschmer bei einem Bürgerforum in der Aula eines Gymnasiums in Dippoldiswalde. Unaufgefordert erklärte er eingangs seine Haltung zum Krieg in der Ukraine. Diese sei »unschuldig angegriffen« worden, und es gebe kein Motiv für den russischen Angriffskrieg – auch nicht die Osterweiterung der Nato: »Das ist überhaupt kein Grund für nichts.« Die Souveränität von Ländern durch Sicherheitsinteressen von deren großen Nachbarn zu relativieren, sei »ein Denken aus dem vorletzten Jahrhundert«.

Gleichwohl betonte Kretschmer erneut, der Krieg könne »nur durch Verhandlungen und Diplomatie zu Ende« kommen und nicht durch immer mehr Waffen. Zudem plädierte er abermals für die Wiederaufnahme »ökonomischer Verbindungen« mit Russland, wenn der Krieg vorbei sei und es »Veränderungen« im Land gegeben habe. Das ist eine Position, mit der Kretschmer bisher wenig Rückhalt fand. Meist wurde ihm entgegen gehalten, Russland zeige keinerlei Bereitschaft zu Verhandlungen, und ob es Zeit dafür sei, entscheide die Ukraine. Vergangene Woche aber ließen Äußerungen von Wolfgang Ischinger aufhorchen. Der Ex-Chef der Münchner Sicherheitskonferenz mahnte, es sei »höchste Zeit«, dass der Westen einen »Friedensprozess für die Ukraine« in Gang setze.

Kretschmer dürfte sich dadurch bestätigt fühlen. Für seinen Kurs gibt es mehrere Erklärungen. Eine wie auch immer geartete persönliche Abhängigkeit gehört wohl nicht dazu. Auch ein Pendant zur Stiftung Klima und Umwelt in Mecklenburg-Vorpommern, mit der die Fertigstellung der Nordstream-Pipeline gesichert werden sollte und Millionen aus Russland in das Bundesland flossen, gibt es im Freistaat nicht. Auch Jobs hängen in Sachsen nur noch begrenzt an wirtschaftlichen Kontakten mit Russland. Selbst der Leipziger Gasversorger VNG, mit über 1000 Beschäftigten das größte Unternehmen mit Sitz in Ostdeutschland, war zwar fast 50 Jahre von russischem Erdgas abhängig, hat aber die erzwungene Abnabelung überstanden.

Als mögliches Motiv für das Agieren Kretschmers, der immerhin stellvertretender CDU-Bundesvorsitzender ist, sieht der Kasseler Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder den »Versuch, als ostdeutsche Stimme im Kontext des aggressiven russischen Krieges zu agieren«. Umfragen zeigen, dass die Haltung dazu im Osten anders ist als im Westen. Bei einer Civey-Umfrage für die »Sächsische Zeitung« gaben im Februar 70 Prozent der Befragten an, die Lieferung von Leopard-Panzern an die Ukraine abzulehnen. 59 Prozent machen die Nato-Osterweiterung mitverantwortlich für den Krieg, nur 36 Prozent verneinen das. Bundesweit sind die Mehrheiten genau umgekehrt. Erklärt werden die Differenzen teils mit einer historischen Verbundenheit vieler Ostdeutscher mit der Sowjetunion, mit der das heutige Russland gleichgesetzt werde, teils auch mit antiwestlichen und antiamerikanischen Ressentiments.

Wohin die führen, ließ sich vergangenen Montag in Bautzen beobachten, bei der 110. »Mahnwache für Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung«. Dominierendes Thema der Mahnwachen, bei denen die rechtsextremen »Freien Sachsen« ebenso präsent sind wie die AfD, war lange die Corona-Politik, und noch immer wird in Reden die angebliche Vertuschung von Impfschäden gegeißelt. Doch daneben gibt es Plakate mit Friedenstauben auf AfD-blauem Untergrund und viele russische Fahnen. Jörg Urban, AfD-Fraktionschef im Landtag, lobte Ischingers Vorstoß und führte ihn auf den Druck der Straße zurück. »Das seid ihr!«, rief er. »Ihr zwingt die Regierung, wieder aktiv zu werden!«

Ob auch Kretschmer vor allem dem Druck der Straße nachgibt oder Überzeugungen äußert, ist offen. Als die Zeitschrift »Emma« vor einiger Zeit einen offenen Brief gegen Waffenlieferungen veröffentlichte, sagte Kretschmer, dieser bilde »nicht die Mehrheit der veröffentlichten Meinung ab, aber durchaus die Mehrheitsmeinung der Gesellschaft – auch meine«. Fakt ist: In Sachsen wird 2024 gewählt. Erneut wird ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen CDU und AfD erwartet. Die Frage von Krieg und Frieden könnte mitentscheidend werden. Dass Kretschmer sich so äußert, wie laut Umfragen die Mehrheit der Sachsen tickt, scheint ihm zu helfen. Seit Juli 2022 sind mehr Bürger zufrieden als unzufrieden mit ihm, vorher war es anderthalb Jahre umgekehrt. Auch die CDU liegt in einer aktuellen Sonntagsfrage mit 34 Prozent vor der AfD mit 31 Prozent. Beim Bürgerforum in Dippoldiswalde bedankte sich ein Zuhörer bei Kretschmer für seine »Standhaftigkeit in der Ukrainepolitik«.

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