Fabian Hinrichs an der Berliner Volksbühne: Mein Markt

An der Berliner Volksbühne entdeckt Fabian Hinrichs Lord Byron und sein Drama »Sardanapal« wieder und erschafft zwar große Szenen, aber auch einen im Ganzen erratischen Abend

Weit mehr als ein Ersatzmann mit dem Textbuch: Fabian Hinrichs ist der erste Autor des Bühnenabends »Sardanapal« nach Lord Byron.
Weit mehr als ein Ersatzmann mit dem Textbuch: Fabian Hinrichs ist der erste Autor des Bühnenabends »Sardanapal« nach Lord Byron.

Freitag, 21. April, Berlin-Mitte. Die Premiere von »Sardanapal« steht auf dem Spielplan der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Ein fast vergessenes Stück des englischen Dandys Lord Byron, hier gegeben nach Lord Byron – andernfalls könnte man sich der deutschsprachigen Erstaufführung eines Beinahe-Klassikers der Schwarzromantik rühmen.

Bevor das Spiel beginnt, tritt die Dramaturgin Anna Heesen auf die Bühne. Benny Claessens gehe es seit gestern nicht gut, heißt es etwas kleinlaut und schwammig, weswegen Fabian Hinrichs seine Rolle zusätzlich übernehmen werde. Davon, dass diese »Umbesetzung« nur temporär wäre, darf man wohl nicht ausgehen. Claessens, die Rampensau schlechthin, der übrigens von Hinrichs vor fünf Jahren der Alfred-Kerr-Darstellerpreis verliehen worden ist, war für die Titelrolle vorgesehen. Hinrichs sollte sowieso an diesem Abend auf der Bühne stehen, zeichnet für Regie und Musik verantwortlich und hat gemeinsam mit Ann-Christin Müller das Bühnenbild entwickelt. Also noch ein Hauch mehr Hinrichs in einer Arbeit, die den charmanten Exzentriker ohnehin in den Mittelpunkt stellt.

Claessens hat im Selbstdarstellungsportal Instagram pünktlich zur Premiere folgende Tiergeschichte zum Besten gegeben: Mit dummen Menschen zu streiten sei wie das Schachspiel mit einer Taube. Egal, wie gut man spiele, die Taube werde alle Figuren umwerfen, auf das Brett kacken und herumstolzieren, als habe sie gewonnen. Verwechslungen, so darf man mutmaßen, mit real existierenden Tauben sind durchaus erwünscht. Ein bemerkenswertes Verhalten des festen Ensemblemitglieds Claessens.

Der Wunsch, »Sardanapal« auf die Bühne zu bringen, dürfte so neu nicht sein. Der »FAZ«-Theaterredakteur Simon Strauß hatte unter dem Titel »Spielplanänderung« dazu aufgerufen, das eintönige Repertoire der Bühnen im Land durch Vorschläge selten oder gar nie gespielter Stücke zu revitalisieren. Nur in den allerwenigsten Fällen haben die Theater die Anregungen aufgenommen. Mit René Pollesch hat Hinrichs einen Intendanten, der offenbar genau hingehört hat. Und so setzt der Schauspieler seinen Vorschlag aus der »FAZ« vom Herbst 2019, Lord Byron für die Bühne wiederzuentdecken, selbst in die Tat um.

Euphorisch hatte er die Renaissance von George Gordon Noel Byron beschworen, jenem einstigen Dichterfürsten, nach dessen Tod sich Menschen von den Klippen gestürzt haben. Den Baron stellt er den Leserinnen und Lesern ganz und gar als Literatenfigur der Moderne dar: körperlich beeinträchtigt, magersüchtig, bisexuell, an den gesellschaftlichen Verhältnissen zerbrechend, gegen die Welt anschreibend.

»Sardanapal«, 1821 fertiggestellt, ist eine historische Tragödie um den titelgebenden Herrscher über Assyrien. Die Verlogenheit politischen Agierens lehnt dieser ebenso ab wie das Führen von Kriegen, sein Leben widmet er den Genüssen. Und – der Sklavin Myrrha gibt er den Vorzug vor seiner Frau, der Königin Zarina. Der Machtapparat um Sardanapal herum wie auch das von ihm sanft beherrschte Volk stehen gegen den eigenen Führer. Ein Putsch steht an. Sardanapal greift zögernd ein. Dem Lynchmob kommt er jedoch zuvor und stürzt sich und die Geliebte in den Flammentod.

Wie hebt man einen solchen Stoff im 21. Jahrhundert auf die Bühne? Hinrichs versucht’s mit leichter Hand, lässt sich zunächst Zeit und beginnt in sicherem Abstand zum Assyrischen Reich. Mit Textprojektionen geht es los, AC/DC, Altes Testament und Hölderlins »Hyperion« lauten deren Quellen. Fabian Hinrichs betritt die Bühne und verausgabt sich hopsend-tanzend zu Barry White und schön-schief singend Franz Schubert. Damit dürfte bereits einiges gesagt sein über das Assoziationsspektrum, in dem sich dieser Theaterabend bewegt.

Schon bald wird eine Supermarktkasse enthüllt. Wir finden uns in München in einem Supermarkt wieder. Sir Henry fährt minutenlang ein Reinigungsfahrzeug über die Bühne und beherrscht eindrucksvoll die Szene. Hinter der Kasse nimmt Lilith Stangenberg Platz, ehe sich eine endlos lange Schlange bildet. Leise ist Haddaways »What is Love« zu hören. Immer deutlicher vernimmt man die Warteschlangenmonologe. Man befindet sich mittendrin in der Kommunikation der vereinzelten Einzelnen, irgendwo zwischen Wetterauskunft und Aufregung über die Lebensmittelpreise. Vor einigen Jahren versprachen die Werbetexter von Rewe noch: »Besser leben«. Heute heißt es schlicht: »Mein Markt«. Mehr ist nicht zu haben. Und so offenbart die theatrale Supermarktanordnung auf der Bühne undenkbar viel über unser aller traurig-komische Existenzweise. Diese ausgedehnte Szene gehört vielleicht zu dem Eindrücklichsten, was in Berliner Theatern in den letzten Monaten zu sehen war.

Fast ist man überrascht, dass Lord Byron an diesem Abend doch noch Einzug hält. Im Zeitraffer wird das geneigte Publikum über die Handlung von »Sardanapal« aufgeklärt und anschließend mit einem ganz großen Aufgebot unterhalten. Musikalisch geht es nicht weniger bunt als zu Beginn weiter. Auch das Jugendsinfonieorchester Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium spielt auf. Mit Schwertkampf und engelgleichem Tanz inklusive Flügeln, mit Fackelshow und Akrobatik, mit Musik von Gustav Mahler und Eifel 65 werden monumentale Bilder geschaffen, die aber alsbald dem nächsten Platz machen müssen. So viel Pathos war selten. Leider mit ermüdender Wirkung.

Hinrichs erweist sich auch da noch als Virtuose, wo er, Claessens ersetzend, sich mit dem Textbuch in der Hand durch den Abend hangeln muss. All das geht fast mit andächtiger Ernsthaftigkeit über die Bühne, auch da noch, wo man dem Publikum überdeutlich signalisiert, dass man es so ganz ernst doch nicht meint. Ironisch rettet man sich aus dem gestrigen Weltbild. Nur wohin es wirklich gehen soll, ist nicht klar. Damit läuft dieser Theaterversuch aber ins Leere.

In der »FAZ« fabulierte Hinrichs: »Die große Frage, der Byron in ungezwungenen fünftaktigen Versen hier nachgeht ist die Frage, die die Philosophie auch zweihundert Jahre nach Kant nicht losgeworden ist. Die Frage lautet: ›Was ist Aufklärung?‹. Und mit ihr kommt eine weitere im Schlepptau: ›Was ist Vernunft?‹ Also auch: Was ist vernünftig?«

Auch abgesehen davon, dass es fünfaktiger Dramen unzählige gibt und es sich bei »Sardanapal« auch um ein solches handelt, man von fünfaktigen Versen aber niemals gehört hat – gemeint sind wohl fünfhebige Verse, in diesem Fall Blankverse –, schwingt sich Hinrichs zu kühnen Gedankengängen auf. In einer Tragödie der Romantik, in einem Stück Literatur von Lord Byron die Vernunft zu Hause zu wissen, lässt staunen. Wenig Licht, viel eher Verdüsterung findet man in diesen Szenen. Das große Thema des Abends, die Rolle der Kunst und das gute Leben, werden nur assoziativ umkreist. Dass das Glück nicht im Markt, auch dann nicht, wenn Lilith Stangenberg an der Kasse sitzt, zu finden ist, war klar. Alles Weitere bleibt hier allerdings im Dunkel.

Nächste Vorstellungen: 24., 27.4. und 7.5.
www.volksbuehne.berlin

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