• Kultur
  • Edmond und Jules Goncourt

Schweinerei

Aus den Tagebüchern der Gebrüder Goncourt

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 5. Mai 1876 trifft sich in einer Taverne hinter der Pariser Opéra Comique, die »Gesellschaft der Fünf«, um eine Bouillabaisse zu essen. Am Tisch sitzen Flaubert, Turgenjew, Zola, Daudet und Edmond de Goncourt. Wie zu erwarten, geht es um Literatur und – Männerrunde eben – um Sex. Goncourt fasst im Tagebuch den Abend zusammen: »Turgenjew ist ein Schwein, dessen Schweinerei sentimental gefärbt ist, Zola ist ein rohes und grobes Schwein, dessen Schweinerei sich jetzt gänzlich in der Nachahmung verausgabt. Daudet ist ein angekränkeltes Schwein mit den launigen Ausfällen eines Gehirns, bei dem wohl eines Tages der Wahnsinn einziehen könnte. Flaubert ist ein vorgebliches Schwein, das sich selbst als solches ausgibt und so tut, als wäre es eines, um mit den wirklichen, aufrichtigen Schweinen mithalten zu können, welche seine Freunde sind. Und ich, ich bin ein zeitweiliges Schwein, mit Anfällen von Sauereien, dem die Gereiztheit des vom Spermientierchen gebissenen Fleisches anhaftet.«

Diese Kostprobe mag genügen, um die »Blitzlichter« aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt vorzustellen: 22 Bände füllten diese Tagebücher, die erst 60 Jahre nach dem Ableben Edmonds in Monaco, außerhalb der französischen Gesetzgebung, veröffentlicht wurden. Die jetzt vorliegende, von Anita Albus herausgegebene Auswahl begnügt sich: »Im Bemühen um eine Vielzahl verschiedener Spezies werden hier 77 Figuren vorgestellt, die sich um einen ›Bären‹ versammeln, dem wir die vollkommenste Prosa der Zeit danken: Gustave Flaubert.«

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Die Brüder Goncourt – Jules starb bereits 1870 an Syphilis, Edmond 26 Jahre später bei seinem Freund Daudet – schrieben ihre Tagebücher zunächst gemeinsam. Diese sind ein Zeitdokument der Pariser Gesellschaft, der »Fauna der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts« (Albus), sie sind eine unerschöpfliche Quelle der Literatur- und Kulturgeschichte und selbst wunderbare Literatur. Es geht um Menschen, denen die Goncourts wie selbstverständlich begegneten. Keinen schonten sie, weder Kaiser Napoleon III. noch George Sand oder Auguste Rodin, Guy de Maupassant oder Victor Hugo, Baudelaire oder Rimbaud.

Ihrer Geliebten Maria, einer Hebamme, widmen sie eine schöne literarische Miniatur, ihrer langjährigen Haushälterin Rosalie ein bewegendes Andenken – und der Schauspielerin Suzanne Lagier die vielleicht schönste Anekdotensammlung. Sie schläft mit vielen Männern, ihr Mann hat nichts dagegen, wenn sie es nicht für Geld tut. Sie erzählt auch in größerer Runde von ihren Eskapaden. Die Tagebücher bewundern: »Und das Mundwerk! Sie rührt in allen Argot-Töpfen, verschwenderisch mit grellen Farben, ihre Schlagfertigkeit ist unerschöpflich, Anekdoten wie von Rabelais gepökelt, ein unverhohlener Zynismus, der so ungebändigt daherkommt, dass er einem nicht zuwider ist, ganz unverhüllt strahlende Mädchenlaunen. Keine zeitgenössische Komödie kann da mithalten, keine Belustigung ist so amüsant wie diese ulkige Nudel. Dieses vergnügliche Großmaul …« Julian Barnes dachte vielleicht an die hier nicht in ihrer ganzen Schönheit wiederzugebenden Passagen über die Lagier, als er urteilte: »Die Goncourts sprechen in ihren Tagebüchern mit einer Offenheit über Sex, die heute noch schockieren kann.«

Aus Edmonds Vermögen wird die Académie Goncourt finanziert, die seit 1903 den nach den Brüdern benannten wichtigsten Literaturpreis Frankreichs vergibt. Anita Albus hat ein kenntnisreiches Nachwort auf höchstem literarischen Niveau geschrieben. Doch was hat den Verlag geritten, auf den hübschen Schutzumschlag setzen zu lassen: »Herausgegeben, übersetzt und benachwortet von Anita Albus«? Dafür jedenfalls gibt es keinen Prix Goncourt!

Edmond und Jules Goncourt: Blitzlichter. Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt. Galiani, 351 S., geb., 25 €.

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