Film »Die Linie«: Große Erwartungen

Ursula Meier seziert in »Die Linie« eine toxische Mutter-Tochter-Beziehung

»Die Linie« ist ein komplexes Panorama verschiedener Frauenfiguren innerhalb einer Familie.
»Die Linie« ist ein komplexes Panorama verschiedener Frauenfiguren innerhalb einer Familie.

Gleich zu Beginn dieses Films passiert etwas Unerhörtes. Zwei Frauen kämpfen miteinander, sie rangeln nicht einfach nur und schmeißen eine Vase an die Wand, nein, sie gehen wie wild geworden aufeinander los. Das ist selten im Kino, Gewalt von und unter Frauen, aber sie wird bestimmend sein für »Die Linie«, den dritten Langspielfilm der Schweizer Regisseurin Ursula Meier.

Die Umgebung passt zu den rauen Familienverhältnissen. Inmitten einer winterkalten Schweizer Bergkulisse, die stimmungstechnisch eher an »Fargo« statt an Heidi-Idylle erinnert, schmeißt Christina (Valeria Bruni Tedeschi) ihre Tochter Margaret (Stéphanie Blanchoud) aus dem Haus, nachdem die beiden im Streit aufeinander losgegangen waren. Warum? Die Gründe entfalten sich in 100 Minuten, und sie erzählen von verpassten Chancen, Erwartungsdruck und einer dysfunktionalen Mutter-Tochter-Beziehung.

Margarets Gesicht und ihr ganzer Körper sind gezeichnet von Narben und alten Wunden. Eine Frau, so stur wie verletzlich, mit extrem kurzer Zündschnur. Stéphanie Blanchoud verleiht dieser Figur eine immense Energie. Ihr markantes Gesicht, die kurzen Haare, die an sich zierliche, faserige, muskulöse Figur, alles an ihr ist auffällig unter Strom, wirkt aber auf keine Weise brutal. Mit jeder Szene allerdings, die die Heilung der Wunden begleitet, scheint ihr Gesicht matschiger, vernarbter, entstellter.

Wo die einen mit ihren Gefühlen, gespeist aus Zurückweisung und Erniedrigung, in die innere Immigration flüchten, vielleicht Trost und Halt in Alkohol oder anderen Süchten suchen, geht Margaret ins Außen. Körperlichkeit ist ihre Art zu kommunizieren. Und diese Frau hat wirklich absolut keinen Toleranzbereich, ihre Impulskontrolle ist nicht existent, zwischen ihr und der Welt gibt es keine Filter. Bei jeder noch so kleinen Konfrontation schreit sie rum, springt auf Motorhauben oder wirft Gegenstände durch die Luft. Die Resilienzforschung würde an ihr verzweifeln.

Ursula Meier setzt voll und ganz auf vier starke Frauenfiguren (neben Mutter und Tochter noch die Schwester und Halbschwester). Hervé (Dali Benssalah), der neue Freund der Mutter, ist nur Katalysator für die Spannung, unter der vor allem Christina und Margaret stehen.

Nachdem Margaret per richterlicher Anweisung mit einem Kontaktverbot zu ihrer Familie belegt wird, mit dem sie sich nicht abfinden will, taucht sie trotzdem regelmäßig vor deren Haus auf, um ihrer kleinen Schwester Marion (Elli Spagnolo) Gesangsunterricht zu geben. Diese malt, um Margaret zu schützen, eine blaue Linie von hundert Metern Umkreis um das Haus. Das Spielfeld, in dem diese intensive Familiengeschichte spielt, ist damit abgesteckt.

Wenn Margaret ihre Halbschwester auf einem Geröllhaufen vor dem Haus auf der Gitarre begleitet, dann sind das die einzigen Szenen im Film, in denen sie ruhig und ausgeglichen wirkt.

Nach und nach gibt Regisseurin Ursula Meier die Gründe für Margarets Wut preis, die vor allem mit Christina zu tun haben. Eine Mutter, die zu früh ihr Leben für ihre älteste Tochter aufgeben musste, die Konzertpianistin mit großer Zukunft gewesen war. Dann kam Margaret und Christina tauschte die Carnegie Hall mit einem tristen Raum als Lehrerin an einer Musikschule. Christina, eine Frau, die es nie verstanden hat, sich zurückzunehmen, die, wenn sie von der größten Liebe ihres Lebens spricht, nicht ihre Kinder meint, sondern das Klavier. Die ihre jüngste Tochter zu fett für ein hübsches Kommunionskleid findet und das alles nicht nur denkt, sondern ihren Kindern ins Gesicht sagt, damit die Schuld, die ihre Existenz mit sich bringt, vor allem den scheinbar Schuldigen klar ist. Toxischer geht es nicht und Valeria Bruni Tedeschi spielt diese Mutter mit einer so überzeugenden Kälte und Ich-Bezogenheit, dass diese Figur auch von Elfriede Jelinek nicht präziser hätte erschaffen werden können.

Aber trotz dieser manipulativen Familienkonstruktion bleibt vage, wo Margarets körperliche Gewalt ihren Ursprung hat. Ihre Figur ist zwar ein eindringlich gespieltes Produkt aus Abweisung und der verzweifelten Suche nach Nähe und Halt, aber woher diese zügellosen, unkontrollierten Ausbrüche kommen, bleibt unklar, was die Figur der Margaret am Ende ein ganzes Stück kraftloser erscheinen lässt, als es auf der Leinwand wirken soll.

»Die Linie«. Schweiz, Frankreich, Belgien 2022. Regie: Ursula Meier. Mit: Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi, Elli Spagnolo, India Hair. 100 Minuten, läuft im Kino.

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