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Wunder der Erzählkunst

Wilde Geschichten: Ein Plädoyer für Ludwig Tieck zum 250. Geburtstag

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.
Johann Ludwig Tieck: Wer ihn liest, ahnt, dass das Leben voller Rätsel, Zufälle, Widersprüche und Geheimnisse ist.
Johann Ludwig Tieck: Wer ihn liest, ahnt, dass das Leben voller Rätsel, Zufälle, Widersprüche und Geheimnisse ist.

Der Bildhauer David d’Angers war schon 1829 überraschend in Weimar aufgetaucht, um an einer kolossalen Büste Goethes zu arbeiten, nun, 1833, kam er auch nach Dresden, weil es eine ähnliche Büste von Ludwig Tieck geben sollte. Der Maler Vogel von Vogelstein hat die festlich beleuchtete Szene gleich zweimal in einem Ölbild festgehalten: Rechts der Dichter wie ein Monarch würdevoll auf imposantem Stuhl und in der Mitte der Franzose vor dem modellierten, riesigen Tieck-Kopf, eine Huldigung, wie sie monströser nicht ausfallen konnte. Tieck war inzwischen sechzig und auf dem Höhepunkt seines Ruhms, sein Haus am Altmarkt ein Anziehungspunkt für Poeten und Künstler sowie Durchreisende aus aller Herren Länder, er selber eine Sehenswürdigkeit, die Attraktion der Stadt, der bewunderte Autor, der abends als gefeierter Vorleser ganze Shakespeare-Dramen gestaltete oder seinem Publikum stundenlang den geliebten Cervantes nahebrachte. Selbst aus Russland und Amerika eilte man herbei, um Tieck als phänomenalen Schauspieler zu erleben. Der verwaiste Platz nach Goethes Tod gehörte nun ihm.

Erstaunt hat der am 31. Mai 1773 in Berlin geborene Handwerkersohn seine Umgebung schon früh. Tieck war ein Wunderkind. Er konnte als Vierjähriger schon lesen, holte sich, als er zehn war, aus der Bibliothek des Vaters bereits Goethes »Götz« und den »Werther«, ließ sich als Gymnasiast in die literarische Nebentätigkeit seines Lehrers Rambach einspannen, schrieb zunächst dessen rasch produzierte Romane ab und lernte dabei so viel, dass er sich bald an der Buchproduktion beteiligte. Später, nach seinem Studium in Göttingen und Erlangen (das er nicht abschloss), heuerte er als Lohnarbeiter beim Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai an, um dessen Buchreihe »Straußfedern« mit frischen Geschichten zu versorgen. Der Abstieg in die Trivial- und Unterhaltungsliteratur, die Anpassung an den Geschmack des Lesepublikums ist ihm später oft verübelt worden. Dabei hat man kaum sehen wollen, wie Tieck die moralisierenden Prinzipien der Aufklärungsliteratur allmählich überwand und sich vom strengen, erbaulichen Erzählen verabschiedete. Er begann zu experimentieren, verknüpfte Alltagsgeschehnisse immer mehr mit dem Fantastischen, setzte auf virtuos entwickelte Fiktionen, auf Ulk, Ironie, Spott und Persiflage, öffnete seine Geschichten fürs Unverhoffte, Unheimliche, Abgründige. Wer ihn las, ahnte, dass es im Leben Rätsel, Zufälle, Widersprüche, Dissonanzen und Geheimnisse gibt.

Jörg Bong und Roland Borgards haben ein paar dieser frühen Prosastücke gerade in einem Band versammelt und mit Zwischentexten versehen, die, fern der üblichen Erläuterungspraxis, mit den Eigenarten des Romantikers vertraut machen, seinen grandiosen Erfindungen, seiner Radikalität, die schon Züge der Moderne offenbart, der spielerischen Leichtigkeit und verblüffenden Beherrschung literarischer Techniken, Motive und Stimmungen. Im Mittelpunkt »Der Blonde Eckbert« und »Der Runenberg«, zwei der schönsten Erzählungen aus dem »Phantasus«, einer Sammlung von Dichtungen der ersten Schaffenshälfte.

Das Buch, lockend »Wilde Geschichten« genannt, verdankt sich der Liebe zweier Enthusiasten, die mit ihrer Auswahl zu Tieck verführen wollen, indem sie auf die Schönheiten, die Überraschungen und Wunder seiner Erzählkunst verweisen. Sie wissen ja, er kann Fürsprache gut gebrauchen. Auch wenn Tieck einst zum Kreis der Jenaer Frühromantiker gehörte und umworbener Star der literarischen Gesellschaft war (den Friedrich Wilhelm IV., der »Romantiker auf dem Thron«, 1842 nach Berlin holte, wo er seine letzten Jahre verbrachte und am 28. April 1853 starb), ist er doch ein Außenseiter geblieben. Dabei war er als Autor so produktiv und vielseitig wie wenige, schrieb Gedichte, Novellen, Romane, Dramen, Komödien (»Der gestiefelte Kater«, 1797), Aufsätze und hat darüber hinaus als leidenschaftlicher Vermittler Weltliteratur nach Deutschland gebracht. Er übersetzte den »Don Quijote« von Cervantes und, gemeinsam mit Tochter Dorothea und August Wilhelm Schlegel, Shakespeare.

Doch die deutsche Literaturwissenschaft hat ihn kaum beachtet. Die einzige große Biografie schrieb Roger Paulin, ein Engländer (Deutsch 1988 bei C. H. Beck). Der Ausgabe der Schriften in 28 Bänden, noch zu Tiecks Lebzeiten bei Reimer in Berlin erschienen, ist bis heute keine ähnliche Edition gefolgt. Der Versuch des Deutschen Klassiker Verlages, ihn endlich mit einer modernen und gründlich kommentierten Werksammlung zu würdigen, scheiterte kläglich. Von den geplanten zwölf Bänden erschienen gerade mal fünf. So ist die vierbändige Ausgabe, die die Österreicherin Marianne Thalmann 1963 im Winkler-Verlag herausgab, das Vollständigste geblieben, was nach 1945 von Tieck erschien. Sie ist seit Langem vergriffen.

Die am intensivsten für ihn warben, waren Schriftsteller, Günter de Bruyn, Franz Fühmann und natürlich Arno Schmidt, für den Tieck einer »unserer ganz Großen« war. Freilich: Noch immer kann man froh sein, wenn ein Verlag, wie soeben Galiani, ihn wenigstens mit einer bescheidenen Auswahl seiner Geschichten in Erinnerung bringt.

Ludwig Tieck: Wilde Geschichten.
Hg. von Jörg Bong und Roland Borgards.
Galiani, 286 S., geb., 26 €.

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