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Jacques Rancière: Unendliches Unvernehmen

Der französische Philosoph Jacques Rancière ist radikaler Denker des Politischen. Die Revolution kann er so aber nicht mehr denken

  • Markus Hennig
  • Lesedauer: 14 Min.
Die Barrikaden des Mai 1968 haben Rancière geprägt. Aber deshalb sind nicht alle Aufstände einfach nur eine Wiederholung.
Die Barrikaden des Mai 1968 haben Rancière geprägt. Aber deshalb sind nicht alle Aufstände einfach nur eine Wiederholung.

Die Revolution findet jeden Tag statt. Auch wenn die Menschen auf der Erde in ihren sozialen Verhältnissen befangen bleiben, vollziehen die Himmelskörper über ihnen fortlaufend eine »revolutio«. So zumindest bezeichnete Kopernikus den Umlauf der Himmelskörper - als jene wiederkehrende Bewegung, die sich nach feststellbaren Gesetzen vollzieht. Das widerspricht einem Verständnis von menschlichen Revolutionen, dass diese auf die Umwälzung und Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielen. Bereits Hannah Arendt machte auf die Paradoxie des Begriffs aufmerksam und erklärt sie damit, dass die modernen Revolutionen, insbesondere auch die Französische Revolution, zunächst als Rückkehr zu einem als natürlich verstandenen Zustand gedacht waren. Doch die Revolutionen veränderten den Begriff der Revolution selbst: Statt auf den Naturzustand richtete er sich nun auf das kommende Reich der Freiheit.

Die Revolution verlängert nunmehr nicht die schlechten Verhältnisse, sondern soll ein alles verändernder Neuanfang sein. Damit aber ist ein Problem verbunden, das die politische Philosophie in der Moderne umtreibt: Wie kann die radikale Abkehr von den bestehenden Verhältnissen so vollzogen werden, dass sie nicht lediglich eine gewandelte Wiederkehr derselben ist? Wie ist es möglich, wirklich neu anzufangen?

Radikal statt revolutionär

Der französische Philosoph Jacques Rancière hat sein Werk seit knappen 50 Jahren darauf aufgebaut, diese Fragestellung zu durchkreuzen: Jede politische Aktion im strengen Sinne habe den Neuanfang bereits vollzogen. Seiner Theorie nach ist die bloße Behauptung, ein politisches Subjekt zu sein, bereits gleichbedeutend mit einer Außerkraftsetzung der gültigen gesellschaftlichen Ordnung. Um in den Straßen als Masse präsent zu sein, müssen die Menschen die ihnen zugeschriebenen Orte verlassen und sich an den öffentlichen Plätzen zusammenfinden, die nicht für sie gedacht sind. Das ist gerade wieder in Frankreich zu erkennen: Erst wenn die Bewohner*innen der kaputtgesparten Vororte diese verlassen und sich vehement Gehör verschaffen, werden sie überhaupt wahrgenommen. Doch diese Wahrnehmung ist weiterhin geleitet durch das Gebot der Herrschaft, möglichst schnell wieder zur geordneten Ruhe zurückzukehren.

Der revolutionäre Aufstand beginne daher bereits auf der grundlegenden Ebene der Verortung der Individuen. Statt also auf den Tag der großen Revolution zu warten, betont Rancière, dass jederzeit mit der bestehenden Ordnung gebrochen werden kann. Mit dieser Perspektive interveniert Rancière vor allem in Frankreich immer wieder in politische Debatten – allein in deutscher Übersetzung liegen fünf Bände mit seinen Interviews seit 1976 vor – und ist zu einem wichtigen Gesprächspartner sozialer Bewegungen geworden. Indem er darauf besteht, dass Befreiung sich nur durch die politischen Subjekte selbst und nicht durch irgendeine vorgesetzte Autorität vollziehen kann, gilt er als einer der bedeutendsten Denker in der Diskussion um die Perspektiven einer radikalen Demokratie.

Die Radikalität von Rancières Thesen zu Aufstand und Rebellion geht bei ihm paradoxerweise einher mit der Abkehr von der Möglichkeit der Revolution und des Neuanfangs. Er kehrt gewissermaßen zur astronomischen Bedeutung der Revolution zurück: In seiner Vorstellung des Politischen werden alle konkreten Herrschaftsverhältnisse zur bloßen Ausformung des immer wiederkehrenden Streits von Stabilisierung und Destabilisierung von Herrschaft. Führt sein anti-autoritäres Politikverständnis zwangsläufig zum Unvermögen, über das Bestehende hinauszugehen? Oder lässt sich aus Rancières Kritik eine Lehre ziehen, um bei allen gescheiterten Revolutionsversuchen an der Möglichkeit vom Hinausgehen über das Bestehende festzuhalten?

Gegen die Autorität der Theorie

Der antiautoritäre Impuls von Rancière ist bereits in seinen frühsten Schriften erkennbar. Während seiner akademischen Ausbildung nimmt er Mitte der 1960er Jahre an Seminaren von Louis Althusser teil, die in dessen berühmtem Band »Das Kapital lesen« münden. Wie für viele französische Denker*innen war Althusser auch für Rancière eine prägende Figur. Althussers Anspruch war es, zu den Texten von Marx zurückzukehren, um diese von den dogmatischen Lesarten zu befreien, die durch die kommunistischen Parteien festgelegt worden waren. Damit eröffnete er die Möglichkeit, neue Perspektiven in Auseinandersetzung mit Marx’ Werk zu entwickeln. Althusser selbst wollte so einen revolutionären Marxismus begründen, der weder den Reformismus der Sozialdemokratie noch die Barbarei des Stalinismus wiederholte. Im Streit um die Bewertung der studentischen Proteste von 1968 brach Rancière mit seinem Lehrer und verarbeitete diesen Bruch in seiner ersten Monographie »Die Lektion Althussers« von 1974.

Rancières Vorwurf lautete, dass Althussers Theorie letztlich auf die Bevormundung der politischen Praxis hinauslaufe. Dabei räumte er ein, dass er zunächst von dessen theoretischer Perspektive angezogen worden war, weil darin die Intellektuellen selbst praktisch tätig werden konnten: Sie sollten helfen, die Unterdrückten über ihre Ideologien aufzuklären. Für dieses Ziel verteidigte Althusser stets die Eigenständigkeit der marxistischen Theorie gegenüber einer Bevormundung durch die kommunistische Partei sowie wie gegen den Vorrang eines vermeintlich spontanen Aktivismus. Nur in Unabhängigkeit von beidem konnte die Theorie für Althusser die ihr zukommende Aufgabe erfüllen, das idealistische Bewusstsein durch einen konsequenten Materialismus aufzuklären.

Doch für Rancière war Althussers Einspruch gegen die Autorität der Partei nur ein scheinbarer, weil er sich nicht gegen Autorität als solche richtete. Stattdessen ziele er darauf, die Theorie selbst als Autorität einzusetzen, um von ihrem Standpunkt aus die Massen zu erziehen: Die Althussersche Theorie, wie Rancière schreibt, »war grundsätzlich eine Erziehungstheorie. Und jede Erziehungstheorie strebt danach, eine Macht aufrechtzuerhalten, die sie aufklären will.« Für Rancière rechtfertigte Althussers theoretische Position dessen eigene Vormachtstellung durch eine »Begriffspolizei«, die zwischen guten (materialistischen) und schlechten (idealistischen) Begriffen und Konzepten unterschied. Dies entmündige die sozialen Kämpfe, weil ihnen zunächst auf der theoretischen Ebene eine Bedeutung zu- oder abgesprochen wird. Rancières Kritik kennzeichnete Althussers Position als eine, die Machtverhältnisse reproduziert, anstatt sie zu erschüttern. Ranciére zog daraus den Schluss, dass eine solche Erschütterung nicht durch die Theorie selbst erfolgen könne, sondern einzig durch die »Kämpfe der Masse«, wie er schreibt. Damit ist ein Motiv von Rancières Denken etabliert, das sich durch seine weiteren politiktheoretischen Arbeiten ziehen wird: Jede Theorie, die versucht, Kämpfe in eine begriffliche Ordnung zu bringen, arbeite daran mit, diese Kämpfe in einer sozialen Ordnung stillzustellen.

Der denkende Aufstand?

Entsprechend widmet sich Rancière in seinen Büchern ab der Mitte der 1970er Jahre dem Versuch, die rebellierende Praxis selbst als denkende zu beweisen und nicht als bloße Unwissenheit oder blinde Reaktion auf die Unhaltbarkeit der Verhältnisse. In seiner stark historisch orientierten Studie »Die Nacht der Proletarier« (1981, in deutscher Übersetzung 2005) versuchte Rancière anhand von Archivmaterialien zu zeigen, wie die Proletarier*innen sich selbst dem Denken und Schreiben widmeten. Mit diesem Nachweis richtete er sich einerseits gegen die Vorstellung der Bourgeoisie, dass die Arbeiter*innen nicht selbst denken könnten. Aber er wandte sich andererseits auch gegen eine leninistische Vorstellung, die er seinem ehemaligen Mentor Althusser zuschreibt: dass die Arbeiter*innen nicht revolutionär denken könnten und deswegen der Führung durch die Partei oder wenigstens der Intellektuellen bedürften.

Wie Rancière in »Die Nacht der Proletarier« ausführt, entwickelten die Arbeiter*innen eine eigene Form des Denkens, indem sie sich in der Nacht dem Schreiben widmeten. Die Befreiung besteht für ihn gerade im Verlassen der zugeschriebenen Position und kann nur von den Subjekten selbst vollzogen werden, die eine neue, wie er es nennt, Ordnung des Sinnlichen einüben. Wie Rancière selbst noch in seinem jüngsten Buch »Zeit der Landschaft« (2022) betont, bestehe die Befreiung der Proletarier*innen nicht nur in einem neuen Denken, sondern eben in dem Versuch, an einem anderen Ort zu denken und damit auch andere sinnliche Erfahrungen zu ermöglichen. Die Befreiung wird für Rancière aber tendenziell zum individuellen Akt. Gerade weil der Weg zu einer »Gesellschaft von freien Arbeitern« nicht von den »Kerkermeistern« verstellt wird, wie es in »Die Nacht der Proletarier« heißt, liegt es an den Arbeiter*innen selbst, die Wege der Freiheit zu gehen. Aber auf diese Wege können sich laut Rancière nur »bereits befreite Individuen einlassen«.

Diese Konzeption unterstrich er in seinem Buch »Der unwissende Lehrmeister« von 1987. Darin berichtete Rancière von dem Lehrer Joseph Jacotot, der seinen belgischsprachigen Schüler*innen Französisch beibringen sollte, ohne selbst die belgische Sprache zu beherrschen. Seine Lösung bestand darin, dass er ihnen einen zweisprachigen Telemach gab, mit dem sie Französisch lernen konnten. Rancière erblickt darin die »Methode der Gleichheit«, die nämlich nicht länger von der Trennung zwischen Unwissenden und Wissenden ausging, sondern die Gleichheit der Intelligenzen an ihren Anfang setzte. Nur weil diese Gleichheit bestehe, könnten Lehrer*innen etwas beibringen, das sie selbst nicht wissen, nämlich indem sie zur geistigen Emanzipation motivieren.

Ausgehend von der Gleichheit der Intelligenzen kommt Rancière aber zu dem Schluss, dass es allein an der Faulheit der Einzelnen liegt, wenn diese sich der Anstrengung des Lernens entziehen wollen. Und diese Faulheit wiederum verursacht die gesellschaftliche Ungleichheit: »Die Leidenschaft der Ungleichheit ist der Taumel der Gleichheit, die Faulheit angesichts der unendlichen Aufgabe, die sie verlangt, die Furcht vor dem, was ein vernünftiges Wesen sich selbst schuldet.« In konsequenter Betonung der Gleichheit kippt Rancières Argumentation an dieser Stelle in eine Verachtung gegenüber den Ungleichen. Ihre Ungleichheit ist für ihn nur als Resultat ihres fehlenden Willens zu verstehen. Seine Theorie erscheint so als Versuch, die Frage der Befreiung von ihren Voraussetzungen zu lösen: Nur indem die Gleichheit immer schon gegeben ist, ist die Befreiung jederzeit möglich. Aber bei einem derartigen Verständnis von Befreiung wird letztlich unklar, worauf sich die Befreiung eigentlich noch beziehen soll. Dieses Problem wird an Rancières zentralem politiktheoretischem Werk »Das Unvernehmen« besonders deutlich.

Ewig wiederkehrender Streit

Innerhalb der sozialphilosophischen Großdebatte um den Begriff des Politischen und die Grundlagen radikaler Demokratietheorie spielte Rancières »Unvernehmen« (1995, in deutscher Übersetzung 2002) eine bedeutende Rolle. Darin entwickelt der Autor die These, dass das Moment der Politik im Einspruch gegen die polizeiliche Ordnung besteht. Mit Polizei bezeichnet Rancière jene Aufteilung des Sinnlichen, die die Körper in eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung eingliedert. Das titelgebende Unvernehmen stellt sich demnach dort ein, wo eine Aufteilung des Sinnlichen mit etwas konfrontiert wird, das nicht in diese Aufteilung hineinpasst. Darin bestehe die Politik im Gegensatz zur polizeilichen Ordnung und der Aufteilung des Sinnlichen. Diese Aufteilung umfasst stets auch die Entscheidung, was als vernünftige Rede in die öffentliche Diskussion integriert werden kann und was als bloßer Lärm dieser Diskussion fern bleiben muss.

Aufstände wie etwa momentan in Frankreich bleiben den Herrschenden unverständlich, weil sich darin eine andere Ordnung des Sinnlichen ausdrückt. Herrschaft manifestiert sich also gerade in jener Verweigerung gegenüber der Diskussion, weil den Rebellierenden abgesprochen wird, eine sinnvolle Sprache sprechen zu können. Die in ihrer Sprache formulierten Wünsche und Hoffnungen sind unvereinbar mit der bestehenden Ordnung, weshalb die Aufstände aus der Perspektive der polizeilichen Ordnung als pure Gewalt und irrationaler Hass erscheinen.

Gegen diese Aufteilung mobilisiere Politik die Logik der Gleichheit. Denn auch wenn Herrschaft die Ungleichheit beschwört, so müssen die Untergebenen doch die Sprache der Herrschenden verstehen, um ihre Befehle empfangen und befolgen zu können. Das heißt, um über sie herrschen zu können, muss den Beherrschten bereits zugesprochen werden, was ihnen in der Situation ihres Aufstandes abgesprochen wird. Die politische Logik der Gleichheit ist für Rancière insofern die Grundlage jeder gesellschaftlichen Ordnung, in welche sie aber nur als polizeiliche Logik der Herrschaft eingehen kann. Die Gleichheit kann so gesehen nie verwirklicht werden, sondern es gibt nur polizeiliche Ordnungen, die sich immer wieder aufs Neue herausfordern ließen. So steht für Rancière die Politik der Polizei antagonistisch gegenüber. Und zugleich verweist diese Konstellation darauf, dass Politik, wie er schreibt, stets an-archisch ist – also gemäß dem griechischen Ursprung des Wortes »ohne ein zugrundeliegendes Prinzip«.

Weil Rancière allerdings beide Logiken als universelle Konstanten versteht, verkennt er, inwiefern dieser Gegensatz sich wandelt. So besteht die polizeiliche Logik schon längst nicht mehr nur darin, die hierarchische Ordnung aufrecht zu erhalten, sondern auch in Integration. Das sogenannte Diversity-Management beispielsweise versucht schon längst nicht mehr, das abweichende Andere als ungleich auszuschließen, sondern erkennt es gerade in seiner Diversität an und macht es gleichermaßen nutzbar. Wenn das Wesensmerkmal der Politik also darin besteht, dass bisher unsichtbare Dinge in Erscheinung treten, dann besitzt auch die Polizei eine politische Dimension, wenn sie versucht, nichts unbemerkt zu lassen und alles ihrer lückenlosen Kontrolle zu unterwerfen.

Die zentrale Unterscheidung von Politik und Polizei in zwei gegensätzliche, universelle Logiken scheitert damit. Denn die Versuche der Emanzipation aktualisierten allzu oft selbst Elemente der Herrschaft und Herrschaft wiederum verweist auch auf die Möglichkeit der Emanzipation. Anstatt aber dieses Verhältnis des Umschlagens von Befreiung in Herrschaft näher zu untersuchen – wie es sich beispielsweise jüngst Christoph Menke in seiner »Theorie der Befreiung« vornahm –, verbleibt Rancière bei der Festschreibung des Gegensatzes. Jede politische Bewegung entstehe, weil sie die Ungleichheit mit der Logik der Gleichheit konfrontiert. Und jede Bewegung werde mit dem Anspruch auf Gleichheit scheitern, weil sich diese Logik nicht als solche institutionalisieren lässt. Diese Logiken von Politik und Polizei sieht Rancière von Aristoteles über den Sozialisten Louis-Auguste Blanqui im 19. Jahrhundert bis in unsere heutige Zeit wirken. Nimmt man diese Annahme für wahr, besteht aber schlicht keine Hoffnung mehr darauf, den Zustand der Herrschaft an sich zu überschreiten. Damit vollzieht Rancière den paradoxen Übergang vom Versuch, anti-autoritäre Politik zu denken zur Behauptung einer Permanenz der Herrschaft.

Obwohl Rancière zugesteht, dass Aufstände wie etwa die sogenannte Gelbwesten-Bewegung konkrete Verbesserungen herbeiführen könnten, verneint er die Möglichkeit, dass sich das Verhältnis von Politik und Polizei qualitativ verändern kann. Seine Abkehr vom autoritären Lehrmeister Althusser und der marxistischen Theorie generell ist insofern konsequent, denn diese zielten ja genau auf die Frage der qualitativen Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung. Der Anspruch besteht gerade in der Orientierung im Kampf zur Überwindung aller Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx). Dafür gilt es, zwischen jenen Kämpfen zu unterscheiden, die eine revolutionäre Perspektive aufwiesen und jenen, die es nicht tun. Rancière weigert sich diese Unterscheidung zu treffen und lässt damit auch die Frage unangetastet, warum genau Bewegungen scheitern. Stattdessen setzt er ihr Scheitern als Prinzip voraus.

Aufstand oder Revolution?

Allerdings kehrt Rancière mit seinem anti-autoritären Impuls immer wieder zu einem wichtigen Einspruch gegen eine traditionsmarxistische Annahme zurück: Die Möglichkeit von Befreiung verlangt streng genommen keine Bedingungen, die erst erfüllt werden müssen. Sie kann jederzeit geschehen. Diesen Einspruch formulierte bereits der Anarchismus gegen einen marxistischen Determinismus, dem Marx selbst übrigens weniger anhing. Und Rancière scheint mit diesem Bezug durchaus zu kokettieren, wenn er die Politik selbst als an-archisch beschreibt. Allerdings verzichtet er auf eine explizite Rezeption anarchistischer Theorie und reproduziert so letztlich ein bürgerliches Zerrbild des Anarchismus, das diesen nur als spontanen Aufstand versteht.

In diesem Sinne erscheint es naheliegend, dass Rancière sich schließlich für die Gedanken von Auguste Blanqui begeistert, der für eine sozialistische Strömung steht, welche mittels konspirativer Kleingruppenaktivität den Aufstand herbei- und anführen wollte. Für dessen weniger bekannten Reflexionen mit dem Namen »Die Ewigkeit durch die Gestirne« verfasste Rancière ein Vorwort. Darin stellt Blanqui die Bewegungen der Himmelskörper als Allegorie für die sozialen Verhältnisse auf der Erde dar und Rancière greift diese Beschreibung auf. Ihr zufolge bestehen alle Himmelskörper aus der gleichen Materie, die sich in eine Ordnung der Körper fügen. Aber damit diese Ordnung weiter bestehen kann, braucht es die immer wiederkehrenden Zusammenstöße: »Alle Sonnen wären ohne den auferweckenden Zusammenstoss zum Tode verurteilt, die erhaltende Kraft erweist sich als die revolutionäre Kraft, die ohne Ende neue Sonnen und neue Sonnensysteme erzeugt.«

Indem die Aufstände hier als Bedingung für das weitere Bestehen der Ordnung präsentiert werden, offenbart Rancière selbst den Zusammenhang von Politik und Polizei. Jedoch zieht er daraus keine Kritik des Verhältnisses, sondern affirmiert diesen Zusammenhang als unvermeidbare »unendliche Wiederholung der gleichen Szene«. Auch wenn er zugesteht, dass es sich dabei um eine traurige Gewissheit handelt, so sieht er die Möglichkeit der Befreiung darin begründet, dass mit jeder Wiederholung eine neue Entscheidung getroffen werden kann. Bereits Walter Benjamin erkannte in den Gedanken von Blanqui allerdings eine »vorbehaltlose Unterwerfung« unter die bestehenden Zustände. In seiner Kritik der vermeintlichen Notwendigkeit eines unendlichen Fortschreitens hin zur befreiten Gesellschaft verneint Blanqui jede Möglichkeit des Fortschritts und kann deshalb die bestehende Welt nur als einzig mögliche anerkennen.

Die Himmelskörper werden also an ihren Ort zurückkehren, sie werden sich unendlich weiterdrehen: Indem Rancière die revolutionären Aktionen darauf festlegt, dieser Wiederholung zuarbeiten zu müssen, verkennt er die entscheidende Differenz zwischen den Revolutionen der Himmelskörper und jener der Menschen. Denn diese können zumindest der Möglichkeit nach ihre Geschichte selbst gestalten. Dafür ist es aber notwendig, die historischen Befreiungsversuche nicht nur als Ausdruck einer wiederkehrenden Logik zu verstehen, sondern aus ihren konkreten Erfahrungen des Scheiterns zu lernen. So wirken etwa die aktuellen Aufstände in Frankreich wie eine Wiederholung der Unruhen von 2005 – aber erstrebenswert bleibt doch eine Welt, in der sie sich nicht wiederholen müssten. Rancière fragt jedoch ebenso wenig nach den konkreten Bedingungen von Befreiung wie nach denen ihres Scheiterns. Stattdessen verteidigt er die Illusion, dass jeder Aufstand von vorn anfangen könnte. Es mag einfacher sein, die gescheiterten Befreiungsversuche als Beweise eines ewigen Scheitern zu deuten, als sie als Teil der eigenen, selbst gemachten Geschichte anzuerkennen. Aber um die Notwendigkeit des Scheitern zu überwinden, muss aus den vergangenen Fehlern gelernt werden.

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Markus Hennig ist politischer Theoretiker und lebt in Leipzig. Aktuell arbeitet er an einer Promotion zum Zusammenhang von Kollektivität und Erfahrung.

Gleichheit, Polizei, Unvernehmen

Jacques Rancière ist politischer Philosoph und bekannt vor allem für seine Beiträge zur radikalen Demokratietheorie und zur Ästhetik. Er lehrte von 1969 bis ins Jahr 2000 an der Universität Paris VIII und äußerte sich immer wieder als öffentlicher Intellektueller zum Zeitgeschehen. In seiner Theorie denkt er das Politische ausgehend von einer grundlegenden Gleichheit, gegenüber der jede bestehende Ordnung zum Unrecht wird, weil sie immer Ungleichheiten produziert. Zu seinen bekanntesten politischen Werken gehören »Das Unvernehmen« (Suhrkamp 2002) und »Zehn Thesen zur Politik« (Diaphanes 2008). Zuletzt erschien von ihm 2022 das Buch »Zeit der Landschaft. Die Anfänge der ästhetischen Revolution« im Passagen-Verlag.

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