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Einmal in die Zukunft, bitte

Popmusik hat immer wieder eine neue Welt zu gewinnen: Simon Reynolds feiert in seinem neuen Buch die »Futuromania«

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 3 Min.

In seinem berühmten Buch »Retromania« von 2011 diagnostizierte der britische Musikjournalist Simon Reynolds für die Popmusik eine fortwährende Orientierung an der Vergangenheit. Diese Analyse ist mittlerweile beinahe so sehr Teil des Kulturkanons geworden ist wie ihr Gegenstand, der rückwärts orientierte Zitatpop, der suggeriert, er wäre brandneu.

Etwa zur gleichen Zeit wie Reynolds kritisierte auch sein Landsmann Mark Fisher, dass die gegenwärtige Popkultur in einer permanenten Wiederholungsschleife des immer Gleichen gefangen sei. Statt ästhetisch Neues hervorzubringen, speise sich die gegenwärtige Kulturproduktion aus längst vergangenen Werken. Somit erschöpfe sich die Innovationskraft in der eklektizistischen Neuzusammensetzung des Altbewährten (KI lässt grüßen), weshalb Begriffe wie »Vintage« und »Retro« zu zentralen Schlagwörtern in der Marketingwelt verkommen seien.

So catchy, einleuchtend und oftmals auch zutreffend der Befund der beiden Pop-Theoretiker war und nach wie vor ist, so deterministisch und zuweilen auch ausweglos erscheint er. Wenn der neoliberalen Gesellschaft die Vorstellungskraft für Zukünftigkeit abhandengekommen ist, was bedarf es dann, um diese wiederherzustellen? Oder ist gar jeder Versuch diesbezüglich zum Scheitern verdammt?

Anders als Fisher bis zu seinem viel zu frühen Tod 2017, geht Reynolds in seinem neuen Buch »Futuromania« nun einen entscheidenden Schritt weiter. Darin spürt er Zukunftsgläubigkeit in all ihren Facetten in der Welt der elektronischen, also digital erzeugten, Musik nach. Zukünftigkeit meint in diesem Falle nicht zwangsläufig Utopisches, sondern umfasst zugleich düstere, dystopische Visionen, die aber dennoch etwas über die potenzielle Verfasstheit einer Welt von morgen auszusagen vermögen.

In seiner Einleitung räumt Reynolds dann aber zunächst ein naheliegendes Paradoxon ein: Wie kann Musik Zukünftigkeit in sich tragen, wenn sie doch bereits existiert und damit Teil der Gegenwart ist? Zur Veranschaulichung dieses Dilemmas zitiert er einen unbekannten Jazzmusiker, der einstmals auf die Frage, wie der Jazz der Zukunft klinge, clever antwortete: »Wenn ich das wüsste, würde ich ihn schon spielen.« Zukünftigkeit, so schreibt Reynolds, drücke sich daher zuvorderst in einer radikalen »Abschaffung der Nostalgie« aus. Demnach lasse sich dem Moment der Zukünftigkeit auch durchaus in längst vergangenen Werken nachspüren – ungeachtet der Tatsache, dass etwaige Musik subjektiv immer auch mit dem Gefühl der Nostalgie konnotiert sein kann.

Entgegen dem Gros der zeitgenössischen Musikkritik – Reynolds schreibt an einer Stelle, die Musikkritik sei meist »bloß schlechte Literaturkritik« – ist es ihm dabei ein Anliegen, die Materialität von Musik ins Zentrum des Bewusstseins zu rücken. Sounds, Arrangements und Atmosphäre sind für ihn im Zweifel von größerem theoretischen Interesse als das für alle hör- und deutbare Gesungene.

Keineswegs versucht Reynolds sich dabei an der Entwicklung einer kohärenten Theorie. Vielmehr vereint das Buch ein Sammelsurium seiner Ideen und Thesen, die in knapp 30 mal kürzeren, mal längeren Essays in gewohnt spleenig-nerdiger Weise ausgebreitet und diskutiert werden und über einen Zeitraum von über 30 Jahren in Magazinen und Zeitungen wie »Pitchfork«, »The Observer«, »The Wire«, »New York Times« oder »Melody Maker« erschienen sind. Gegenstand seiner Analysen werden dabei so unterschiedliche Acts wie Kraftwerk und das Yellow Magic Orchestra, Donna Summer und Boards Of Canada und so unterschiedliche Genres wie Jungle und Techno, Synth Pop und Nu R & B.

Entscheidend für seine Auswahl ist einzig ein entsprechender Fokus auf elektronische Klangerzeugung, die sich von der altbewährten, von Reynolds gemeinhin eher gering geschätzten Gitarre-Bass-Schlagzeug-Besetzung abhebt – und damit den Weg Richtung Zukunft weist.

Simon Reynolds: Futuromania. Elektronische Träume von der Zukunft. A. d. Engl. v. Jan Niklas Jäger, Chris W. Wilpert, Jonas Engelmann und Benedikt Zopes. Ventil-Verlag, 384 S., br., 30 €.

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