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  • Kultur
  • Ungarn und der Holocaust

Verfolgung, Liebe und Tod

Ein Roman, der erst nach 70 Jahren erscheint: »Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann« von János Székely

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

Er war fast vergessen, der Roman »Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann« von János Székely. Ein Zufall brachte das siebzig Jahre alte Manuskript des ungarischen Autors wieder ans Tageslicht. Tony Kahn, der Sohn eines Freundes von Székely, fand 2020 den Durchschlag einer englischen Übersetzung des verloren gegangenen ungarischen Originals beim Aufräumen seines Dachbodens in einer Kiste. Er erinnerte sich, dass ihm sein Vater das Manuskript Jahrzehnte zuvor gegeben hatte. Kahn schickte die 710 Seiten an die einzige Tochter und Nachlassverwalterin des ungarischen Autors, Katherine Frohriep, in die Schweiz. Sie kannten sich seit der Schulzeit im mexikanischen Exil, wo sie zusammen mit ihren Familien gelebt hatten. Der Diogenes Verlag, in dem inzwischen Székelys Bücher wieder erscheinen, ließ das Manuskript von Ulrich Blumenbach übersetzen und drucken.

Dass alle Versuche Székelys scheiterten, den Roman zu veröffentlichen, hatte vielleicht einen ähnlichen Grund wie bei dem Ende der 90er Jahre in Frankreich wiederentdeckten »Planet ohne Visum« von Jean Malaquais. Der Roman, der 1942 in Marseille spielt, wurde zwar 1947 gedruckt, aber kaum verkauft. Beide Bücher thematisieren deutlich die Beteiligung der örtlichen Polizei und Bevölkerung am Holocaust. Doch davon wollte in der Nachkriegszeit offenbar niemand etwas lesen. Dabei hatten sowohl Székely als auch Malaquais in den 30er Jahren großen Erfolg bei Publikum und Kritik.

János Székely hatte neben seinen literarischen Werken vor allem Drehbücher geschrieben. 1920 vor dem Horthy-Regime nach Berlin geflüchtet, wurde er als Autor zahlreicher Stummfilme bekannt, unter anderem mit Marlene Dietrich. Er war Jude und ging 1934 auf Einladung von Ernst Lubitsch nach Hollywood. Für das Drehbuch des Films »Arise, My Love« gewann er 1940 einen Oscar. Er galt als Linker und floh deshalb vor McCarthy Anfang der 50er Jahre ins mexikanische Exil, wo dann wahrscheinlich »Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann« entstanden ist. Nach dem Ende der McCarthy-Zeit kehrte er in die USA zurück, zog aber 1957 bereits weiter in die DDR, wo er für die Defa zu arbeiten begann. 1958 starb er in Ost-Berlin an Krebs.

In »Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann« wird die Geschichte eines ungarischen Dorfes im Jahr 1944 erzählt. Székely geht es dabei nicht nur um das Schicksal der armen Bauern, die seit 700 Jahren unter den noch immer herrschenden feudalen Verhältnissen zu überleben versuchen, sondern ebenso um die beiden jüdischen Familien sowie die Sinti und Roma, denen – wie den Juden – der Tod in einem der deutschen Konzentrationslager droht. Im Stil der Romane Tolstois schlüpft Székelys allwissender Erzähler in die verschiedenen Protagonisten seiner Geschichte. Er erzählt von dem Geflecht aus Liebe und Macht, deren positive wie auch negative Folgen das Leben der Menschen im Dorf bestimmen.

Im Zentrum stehen dabei Julka, Marci sowie Garas, einer der Bauern. Ob Julka und Marci Sinti oder Roma sind, lässt sich nicht sagen, weil sie in der englischen Übersetzung als »Gypsys« bezeichnet werden. Auf der Flucht vor den ungarischen Gendarmen hatten sie sich ineinander verliebt. Julka schafft es, Garas dazu zu bringen, sie aufzunehmen. Sie geht mit ihm ins Bett, in der Hoffnung, dass er sie und Marci, den sie als ihren Bruder ausgibt, nicht verhungern lässt und vor den Gendarmen versteckt.

Es ist nicht das erste Mal, dass Julka sich prostituieren muss. Um nicht zu verhungern, blieb ihr oft nichts anderes übrig, als ihren Körper zu verkaufen. Székely gelingt es, diese Figur ohne Stereotype und Kitsch überzeugend zu entwickeln. Dass sich Garas in sie und sie sich in ihn verliebt, sie aber gleichzeitig Marci nicht verlassen will, bringt Julka in einen tragischen Konflikt. Nüchtern erzählt Székely von der »sexuellen Hörigkeit«, die im Widerspruch zur darüber hinausgehenden Liebe steht.

Nach und nach entsteht so das Panorama eines ungarischen Dorfes am Ende des Zweiten Weltkriegs. Székely erzählt von den Hoffnungen der Bauern, das Elend hinter sich zu lassen und gegen den Grafen aufzubegehren, von dem Versuch, der mit dem Tod bedrohten Juden, Sinti und Roma zu überleben. Er erzählt von Armut, Verfolgung, Liebe und Tod. Seine Sympathien gelten klar den Unterdrückten, aber der Graf, dem das Schloss und das Land zwar nicht mehr gehören, der aber als Verwalter immer noch mit harter Hand regiert, wird mit allen seinen Widersprüchen als Mensch beschrieben. Székely war nicht nur an der Frage interessiert, wie die Menschen sind, sondern ebenso daran, wie sie so wurden. Das gilt auch für den stellvertretenden Minister, einen Massenmörder, der inzwischen auf dem Schloss des Grafen residiert und die Deportation von Sinti, Roma und Juden organisiert.

János Székely: Eine Nacht, die vor 700 Jahren begann. A. d. Ung. v. Ulrich Blumenbach. Diogenes, 704 S., geb., 28 €.

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