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»Oh Boy«: Die alte Leier

Der Sammelband »Oh Boy« will »Männlichkeit*en heute« kritisch hinterfragen – und stolpert doch nur über altbekannte Fallstricke

Porträt des unbegabten Frisbeespielers als allzu reflektierter Mann: Valentin Moritz’ »Ein glücklicher Mensch« ist ein hochgradig eitler Text.
Porträt des unbegabten Frisbeespielers als allzu reflektierter Mann: Valentin Moritz’ »Ein glücklicher Mensch« ist ein hochgradig eitler Text.

»Ein Mann ist ein Mann ist ein Mann. Zackbumm. Ein Geschöpf wie der Faustschlag auf eine Resopaltischplatte, eine dampfende Versorgermaschine in Theweleit’schem Körperpanzer, erfüllt von heiligem Zorn, dominant in jeder Lebenslage.« So liest sich der erste Absatz im Herausgebervorwort der Anthologie »Oh Boy«, die dieser Tage für Aufregung im Literaturbetrieb – und darüber hinaus – sorgt. Ein paar frech-fröhliche Sätze, irgendwie locker und doch vermeintlich voll und ganz auf der aktuellen Diskurshöhe, garniert mit einer Fußnote, ausgestattet mit einer Anleihe bei Gertrude Stein und selbstverständlich mit einer Referenz auf den »Männerfantasien«-Autor Klaus Theweleit.

Eine non-binäre Person und ein Mann haben also gemeinsam einen Sammelband herausgegeben. »Oh Boy« lautet dessen Titel. 18 Personen reflektieren darin aus, mehr oder minder, männlicher Perspektive über Geschlecht. Mit Mithu Sanyal hat man eine Autorin für das Nachwort gewonnen, deren Expertise in Sachen sex und gender weitgehend außer Frage steht. Gegenstand des Buches ist, was seit einiger Zeit unter dem Schlagwort »kritische Männlichkeit« abgehandelt wird.

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Warum aber wird – mittlerweile – ausgesprochen hitzig über »Oh Boy« diskutiert? Valentin Moritz, die eine Hälfte des Herausgeberduos, tritt in dem Band auch als Autor in Erscheinung. Im Mittelpunkt seines autofiktionalen Beitrags unter der Überschrift »Ein glücklicher Mensch« steht das körperlich übergriffige Verhalten des Literaten gegenüber einer Frau. Diese hatte aber lange vor der Veröffentlichung gegen eine Vertextlichung des unwürdigen Vorgangs, von dem sie primär betroffen war, protestiert.

Was folgte, ist bereits jetzt Teil der neuesten deutschen Literaturgeschichte. Valentin Moritz hat seinen Text so untergebracht, wie er es offenbar für vertretbar hielt. Das Buch kam in den Handel. Die betroffene Frau rief in den sozialen Medien zum Boykott auf. Dann geschah lange nichts. Als Veranstalter Buchvorstellungen absagten, schlug der ganze Fall plötzlich hohe Wellen. Mittlerweile wurde das Buch vom Verlag aus dem Vertrieb genommen. Die Diskussionen um Gewalt und Deutungshoheit, Kunst und Realität, Schuld und Perspektive aber gehen weiter.

Um zu begreifen, welches perfide Verhalten dem ganzen Skandal zugrunde liegt, ist es hilfreich, sich den zeitlichen Ablauf der Ereignisse vor Augen zu führen. Josy, wie die Frau in der Öffentlichkeit genannt werden möchte, die gegenüber »nd« erklärte, zum Opfer von Moritz’ Verhalten geworden zu sein. »Valentin und ich haben uns im Dezember 2021 kennengelernt, und ich habe dann ziemlich schnell von der Buchidee erfahren. Wir haben viel darüber gesprochen«, berichtet sie. Im Mai des folgenden Jahres sei es dann zu dem Übergriff gekommen, und im August habe sie ihn schließlich getroffen, um ihm einen von ihr verfassten Brief vorzulesen. »Darin stand auch, dass ich nicht glaube, dass er noch Teil des Buchprojektes bleiben kann.«

Auf die Antwort von Valentin Moritz sei sie nicht vorbereitet gewesen, beschreibt Josy. Er habe gesagt, er wolle sich nicht aus der Verantwortung stehlen und also seine Herausgeberschaft aufrechterhalten. In einem eigenen Beitrag zu dem Buch wolle er über seine Täterschaft schreiben. Dann habe sie klargestellt, dass sie eine Veröffentlichung, in der es um den Übergriff geht, ablehne. Auch schriftlich habe sie dem Vorhaben noch einmal widersprochen. »Krude« nennt sie Moritz’ eigentümliches Rechtfertigungskonstrukt. Dass Moritz ihre Bitte beflissentlich ignoriert hat, habe sie erst im Juli dieses Jahres, mit dem Erscheinen des Buches, zufällig erfahren. Für sie eine Wiederholung des übergriffigen Verhaltens von Moritz, erneut ein »krasser Vertrauensmissbrauch«.

Josys Boykottaufruf via Instagram, also der Weg in die Öffentlichkeit, sei für sie die einzige Möglichkeit gewesen, dieses Vorgehen und Moritz’ Darstellung nicht unkommentiert stehen zu lassen. Nun wird das Buch vom Kanon-Verlag, der es veröffentlicht hatte, nicht mehr vertrieben. Diese Reaktion hat allerdings auf sich warten lassen. Und bis heute verstummen die Verteidigungsreden im Netz nicht, Plädoyers für Moritz’ Text, in den man offenbar einen feministisch grundierten Altruismus hinein zu imaginieren bereit ist.

Donat Blum, Valentin Moritz’ Mitherausgeber*in, wiederum verteidigt das Projekt und macht darauf aufmerksam, dass Moritz’ Verhalten strafrechtlich nicht relevant gewesen sei. Eine merkwürdige Verschiebung des Diskurses, war das Anliegen von »Oh Boy« doch keineswegs, einen juristischen Kommentar zum Sexualstrafrecht zu verfassen, sondern männliche Selbsthinterfragung literarisch voranzutreiben.

Auf dem identitätspolitischen Jahrmarkt der Eitelkeiten war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis auch die Identität als Mann zum empowernden Ausdruck der eigenen Innenwelt verleiten würde – angesichts dessen Frauen dann bitte schweigen sollen. Und so erweist sich kritische Männlichkeit insgesamt als schwieriges Konzept. Josy sieht darin vor allem eine männliche »Selbstumkreisung«, die feministischen Ansprüchen keinesfalls gerecht würde. Die Reflexion eigener Verhaltensweisen ersetze nicht die Kritik patriarchaler Strukturen. Ohne dass sie männliche Dominanz infrage stellen müssten, ließen sich Männer abfeiern im Wettbewerb darum, wer der »wokeste« Mann sei. »Aber ein Privilegiencheck allein reicht nicht aus«, sagt sie. Das vermeintlich neue Sprechen über Geschlecht ist also vielleicht doch nur die alte patriarchale Leier.

Kontextlos wird im Vorwort von »Oh Boy« Annie Ernaux, die vielleicht wichtigste zeitgenössische Stimme feministischer Literatur, mit dem Satz zitiert: »Wenn sich die Männer ihrer Art zu leben nicht bewusst werden, wird die Befreiung der Frau nie stattfinden.« Isoliert wiedergegeben, lädt dieser Satz zu dem Missverständnis ein, weibliche Emanzipation hänge allein von Männern ab und ein Prozess der Bewusstwerdung durch Männer allein könne bereits ausreichend sein. In ähnlich eitler Manier und ähnlicher Gemengelage aus Selbstgenügsamkeit und Selbstüberschätzung wie in diesem einleitenden Beitrag, in dem Moritz glaubt, auf seine Lektüre moderner feministischer Klassiker wie Margarete Stokowski, bell hooks und Jens van Tricht aufmerksam machen zu müssen, ist auch dessen Text »Ein glücklicher Mensch« abgefasst.

Auf die Frage, wie ein angemessener publizistischer Umgang mit einem Übergriff aussehen kann, verurteilt Josy klar »Täterfetischisierung als gesamtgesellschaftliches Problem«. Einen »Gewinn durch publizierte Täterperspektiven« könne sie nicht sehen. Stattdessen müssten Betroffene zu Wort kommen.

Mag sein, dass es auch literarische Strategien gibt, die Tätern einen Umgang mit dem eigenen Verhalten erlauben. Moritz’ »Ein glücklicher Mensch« allerdings macht es sich denkbar einfach. Die literarische Strategie hinter diesem Text kann wohl am ehesten mit dem Begriff künstlerischer Selbstinszenierung auf den Punkt gebracht werden.

Es ist dies ein ausgesprochen eitler Text. Das literarische Ich stellt sich hier als unvollkommenes Wesen dar. Als unbegabter Frisbeespieler gar. Sogar mit Inkontinenzproblemen wird kokettiert. Nur um darzulegen, welche Probleme man damit habe, sich gegenüber anderen zu öffnen. Nach ein paar Seiten fällt das Wort »Täter«. Alle Einwände und mögliche Vorbehalte über das Schreiben aus dieser Perspektive nimmt der Autor sorgsam vorweg – und behält zu jeder Zeit die literarische Kontrolle. Der Mut, der ihm bisweilen attestiert wird, war billig zu haben.

An Moritz’ Text wird aber auch deutlich, welche Gefahren das derzeit äußerst virulente autofiktionale Schreiben birgt. Durch Annie Ernaux und Didier Eribon enorm popularisiert, hat sich das Innenleben von Literaten vollkommen unverschlüsselt zum vornehmlichen Gegenstand ihres Arbeitens gemacht. Wer allerdings nur über sich selbst schreibt, aber stets von Literarizität spricht, entzieht sich einerseits einer Kunstkritik, da diese nur schwer Aussagen über Persönlich-Biografisches treffen kann. Andererseits schützt man sich auch vor moralischen und politischen Urteilen, weil hier bereits ein Verweis auf den fiktionalen Charakter ausreicht, um sich dem zu entziehen.

Mithu Sanyal, die als Nachwortschreiberin, anders als der Verlag, nicht vorab über den realen Hintergrund des Textes von Moritz und über das entschiedene Nein von Josy informiert worden war, geht öffentlich zwar auf Kritik an dem Buch ein, verteidigt aber auch an verschiedenen Stellen das publizistische Vorgehen.

In einem Interview mit dem »Tagesspiegel« sinniert Sanyal: »Wenn du von dir selbst denkst, dass du ein Monster bist, kannst du auch nichts ändern. Um etwas zu ändern, musst du sagen: Ich habe jemand anderem etwas angetan, was ihm oder ihr geschadet hat. Aber grundsätzlich bin ich ein wohlmeinender Mensch. Was kann ich also tun?«

Das Konzept des Schreibens als therapeutische Maßnahme hat eine lange Tradition. Und niemand würde Moritz das Recht absprechen, sich schreibend mit den eigenen Erfahrungen auseinanderzusetzen. Die Frage, warum es allerdings auch einer Veröffentlichung des Textes bedurfte, steht weiter unbeantwortet im Raum.

Josy sieht das Motiv hierfür vorrangig in einer »Selbstentlastung« des Autors. In der Tat hat der Vorgang etwas zutiefst Katholisches, insofern dass hier der zentrale Gedanke hinter der Beichte aufgegriffen wird: Gestehe deine Sünden ein und werde so von deiner Schuld erlöst.

Sanyal war es auch, die im Zuge der »Oh Boy«-Debatte ihrer Sorge vor Sprechverboten Ausdruck verliehen hat. Nun ist man tatsächlich aber in diesem Fall von einem Verbot weit entfernt. Allerdings wäre es wirklich die Aufgabe eines Verlages, über die Eignung eines Herausgebers gewissenhaft zu entscheiden.

Für Josy hingegen, so sagt sie es, ist ihr Sich-Wehren erst der Beginn einer notwendigen Debatte.

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