Diskriminierende Schulregeln: Berliner Schulen lernen Grundrechte

Schulordnungen enthalten oft diskriminierende Regeln und Verbote, 15 Berliner Schulen wollen das nun ändern

»Die Schulsprache unserer Schule ist Deutsch, die Amtssprache der Bundesrepublik Deutschland.« Dieser Satz steht in der Schulordnung einer Berliner Schule – und ist rechtswidrig. Die Deutschpflicht zählt zu einer der vier häufigsten Regelungen, die dem Grundgesetz, dem Berliner Schulgesetz und dem Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) widersprechen, weil sie diskriminieren.

Bei den übrigen drei typischen Regeln geht es um geschlechtsspezifische Bekleidungsvorschriften, Kopfbedeckungsverbote und Verbote der Religionsausübung. Derart pauschale Verbote lassen sich nicht mit den Grundrechten vereinbaren. Betroffen sind Schüler*innen, die mehrere Sprachen sprechen, muslimisch sind oder eine andere marginalisierte Religion praktizieren, Kopftuch tragen, oftmals ohnehin von Rassismus betroffen sind und, wenn es etwa um Fragen der Bekleidung geht, Sexismus erleben.

Was tun, wenn sich eine Schule eine diskriminierende Schulordnung gibt? Diese Frage besprechen am Montagabend Vertreter*innen der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft Berlin mit Expert*innen in einem Online-Podium. Eingeladen ist etwa die Juristin Soraia Da Costa Batista. Ihre Antwort auf das Problem ist klar: Klagen. Für die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) koordiniert sie eine sogenannte Verbandsklage nach dem LADG. Anders als bei Individualklagen kann hierbei die Organisation diskriminierendes Behördenhandeln von Landesinstitutionen beanstanden, ohne dass Betroffene selbst Klage führen oder aussagen müssen. Was es braucht, sind Beweise, und die hat die GFF in zahlreichen online veröffentlichten Schulordnungen gesucht und gefunden.

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Da Costa Batista erzählt vom Vorgehen. Gemeinsam mit der Anlaufstelle Diskriminierungsschutz an Schulen und Reachout habe die GFF zuerst stichprobenarbeit die Ordnungen von 400 öffentlichen Berliner Schulen untersucht. »Bei circa 40 Schulen haben wir entsprechende Regelungen gefunden, bei 20 haben wir es beanstandet.« Die GFF habe sich also vor einer Klage direkt an die Schulen gewandt und sie aufgefordert, die rechtswidrige Diskriminierung zu beenden. »Die öffentliche Stelle hat dann drei Monate Zeit, um dem nachzukommen.« Nur wenn das nicht der Fall sei, könnte die GFF mit der Verbandsklage vor Gericht ziehen.

»Die meisten Schulen haben relativ schnell reagiert«, berichtet die Juristin. »Teilweise auch sehr offen und dankbar für die Anregung. Andere haben sich vor den Kopf gestoßen gefühlt, verständlicherweise, wenn ein neuer Akteur den Schulkontext betritt.« Zehn von 20 kontaktierten Schulen hätten während der laufenden Frist bereits die verlangten Änderungen der Schulordnung mit der Schulkonferenz beschlossen und umgesetzt und zum Beispiel bei Kopfbedeckungsverboten Ausnahmen für religiöse Kopfbedeckungen eingebaut. Fünf weitere hätten notwendige Änderungen angekündigt. »Und bei fünf sind wir noch im Gespräch, wie die Änderungen aussehen können.«

Für Da Costa Batista ein großer Erfolg: »Sehr viele Schulen haben schnell eingelenkt, deshalb war das ein sehr wirksames Mittel.« Das zeige, wie wenig Schulen bislang über die rechtlichen Bedingungen von Schulordnungen wüssten. Nicht nur gelte das Diskriminierungsverbot vor wie hinter dem Schultor, Schulkonferenzen hätten gar nicht die Kompetenz, derartige Eingriffe in Grundrechte zu beschließen. Aus dem Publikum meldet sich eine Zuhörerin zu Wort, die selbst als Lehrerin tätig ist. »Mir wurde im Referendariat vermittelt, es sei völlig normal, dass Schulordnungen auch Kleidervorschriften enthalten.« Sie hätte mit einem Kollegen diskutieren müssen, der zwei Schülerinnen für zu »leicht bekleidet« hielt. »Wir erfahren in unserer Ausbildung nicht viel zum Thema Diskriminierung, aber wir erfahren, wie wir diskriminieren«, sagt sie.

Während sich die GFF in ihrem Verfahren auf verschriftlichte Vorgaben in Schulordnungen berufen kann, sieht es bei Beschwerden gegen mündlich ausgesprochene Regeln oder Verbote schon schwieriger aus. Das weiß Felix Haßelmann, juristischer Berater bei der LADG-Ombudsstelle. Täglich wenden sich von Diskriminierung betroffene Menschen mit Beschwerden an die Einrichtung. 2022 seien 640 Anfragen eingegangen, von denen rund die Hälfte einen LADG-Bezug hatte, sich also gegen Landesbehörden richtete. Im laufenden Jahr zählt die Ombudsstelle bereits 590 Beschwerden – ein Anstieg um 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, so Haßelmann.

Oft seien der Ombudsstelle jedoch die Hände gebunden. Haßelmann erwähnt einen Fall, wo sich eine Lehrkraft an die Stelle wandte, weil ein Kollege trans und nichtbinäre Schüler*innen konsequent misgenderte. In Haßelmanns Augen ein Verstoß gegen das LADG. »Aber wir konnten nicht in ein formelles Beanstandungsverfahren einsteigen, weil wir in diesem Fall die individuelle Beschwerde einer betroffenen Person brauchen.« Doch die Lehrkraft fand kein Kind, das dazu aussagen wollte.

Derartige Situationen kämen häufig vor: »Das Thema Schule beschäftigt uns bei der Ombudsstelle konstant«, sagt Haßelmann. Aktuell gibt es keine weitere staatliche Stelle, die Diskriminierungsvorfälle an Schulen bearbeitet. Die Vorgänger-Koalition hatte zwar eine unabhängige Beschwerdestelle für genau diesen Bereich geplant. »Aber das wird anscheinend nicht in die Tat umgesetzt.«

Sebastian Walter, diversitätspolitischer Sprecher der Grünen im Abgeordnetenhaus, bestätigt, dass das Projekt unter Schwarz-Rot vorerst auf Eis liege. »Ich habe eine Anfrage an die Bildungsverwaltung gestellt, und in der Antwort hieß es, dass die Ombudsstelle ja eine unabhängige Beschwerdestelle sei.« Doch Haßelmann spricht bereits jetzt, eineinhalb Jahre nach der Einrichtung der LADG-Ombudsstelle von einer »großen Herausforderung«, wenn es um die Bearbeitung der Beschwerden im Bereich Schule geht.

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