Recht auf Abtreibung: »Schritt für Schritt ein Kulturwandel«

Liliana Onofre über die grüne Welle in Lateinamerika für das Recht auf Abtreibung

  • Interview: Moritz Osswald
  • Lesedauer: 5 Min.

Frau Onofre, am 28. September wird der Globale Aktionstag für den Zugang zu sicheren und legalen Schwangerschaftsabbrüchen zelebriert. Er hat seinen Ursprung in Argentinien in den 90ern. Hat der Aktivismus der Argentinier*innen vor über 30 Jahren Früchte getragen?

Der 28. September fing als Kampagne an und wurde dann immer größer. Ich weiß von Organisationen hier, die Frauenrechte verteidigen, dass sie die Resonanz deutlich spüren. Das ist sehr wichtig. Denn manchmal denken wir, dass das Internationale nicht zu den lokalen Gemeinden durchdringt. Doch es kommt an. Der Vorstoß damals war sozusagen Vorreiter für die Marea Verde, die »Grüne Welle«, die wir jetzt in Lateinamerika erleben.

Auf was bezieht sich die »Grüne Welle«?

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Die Marea Verde ist eine soziale Bewegung, die in Argentinien seit mindestens 2019 auf die Straße geht. Feministinnen fordern legale Schwangerschaftsunterbrechungen. Das Symbol, das sie für ihre Bewegung benutzen, ist das grüne Halstuch. Danach transnationalisierte sich die Bewegung und erfasste ganz Lateinamerika. Über das grüne Halstuch identifizieren sich nun Aktivistinnen in der ganzen Region. 2020 haben sie in Argentinien die Entkriminalisierung dann schließlich erreicht. Die grüne Welle hat ganz Lateinamerika erfasst.

Sehen Sie die Tendenz in der Region also positiv?

Es ist schwierig. Zum einen haben wir sehr erfolgreiche Fälle: liberale Gesetzgebungen etwa in Kolumbien, Mexiko, Argentinien. Aber dann ist da Zentralamerika. Dort steht Abtreibung in vielen Ländern unter Strafe. In El Salvador beispielsweise steht auf Abtreibung eine Haftstrafe – bis zu 50 Jahren. Und das unabhängig davon, ob das Leben der Mutter in Gefahr schwebt, im Falle einer Vergewaltigung oder einer Fehlgeburt. Dieses absolute Abtreibungsverbot kam bis vor den Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wird jetzt der Fall Beatriz behandelt. Die junge Frau aus El Salvador lebte in extremer Armut. Sie erwartete ein Kind, doch sie war krank. Die Meinung der Ärzte war eindeutig: Sie müsse abtreiben, das Baby würde nicht lebend auf die Welt kommen. Im März waren die Anhörungen. Frauenrechtlerinnen erwarten mit Spannung das Urteil. Es ist das erste Mal, dass das Thema Abtreibung auf der Ebene eines Gerichts außerhalb des Staates behandelt wird.

Sie forschen zum transnationalen Einfluss der Kirchen auf die Abtreibungsgesetzgebung. Wer hat mehr Einfluss, die katholische Kirche oder Evangelikale?

In Lateinamerika haben die evangelikalen Gruppen über die Jahre massiv an Boden gewonnen. Es gibt verschiedene. Sie alle eint der Glaube an Jesus Christus und die Bibel. Den mit Abstand größten Zuwachs haben die Anhänger der Neopfingstbewegung. Das ist sozusagen der charismatische Zweig der Evangelikalen. Das sind die mit den riesigen Kirchen. Sie haben sehr viel Geld. Sie haben eigene TV- und Radiosender, sind in ganz Lateinamerika gut aufgestellt. Diese Neopfingstbewegung erlebt einen massiven Aufschwung – bei der katholischen Kirche ist das Gegenteil der Fall. Beide Strömungen teilen jedoch ihre Position der totalen Ablehnung von Schwangerschaftsunterbrechungen.

Bedeutet ein gemeinsames Ziel auch geeinte Kräfte?

Katholiken und Anhänger evangelikaler Kirchen lehnen die gleichgeschlechtliche Ehe gleichermaßen ab. Beide kämpfen gegen sexuelle Aufklärung, reproduktive Rechte, wollen dies als »Agenda« abstempeln. Beide versuchen, wissenschaftliche Erkenntnisse zu delegitimieren und bezeichnen sie als »Gender-Ideologie«. Das eint Katholiken und Evangelikale. Sie haben bereits Allianzen geschmiedet. Im Vergleich zur katholischen Kirche jedoch gehen die Evangelikalen noch einen Schritt weiter: Ihre Religion impliziert die Idee, in der Politik aktiv werden zu müssen, um ihren Glauben möglichst überall zu verbreiten. Im Vergleich zur katholischen Kirche, die traditionell eher mit den Eliten verflochten ist, konnten sie auch die unteren sozialen Schichten ansprechen. Zudem kopieren die Neopfingstler Strategien der Feministinnen: Statt einem grünem sieht man bei ihren »Pro Life«-Kundgebungen ein blaues Halstuch.

Der in El Salvador regierende Autokrat Nayib Bukele lehnt eine Lockerung des strikten Abtreibungsverbots rigoros ab. In Mexiko hingegen gab es vor wenigen Wochen Anlass zum Feiern: Der Oberste Gerichtshof entschied in einem einstimmigen Urteil, den Paragrafen des Strafgesetzbuchs zu streichen, der Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellt.

Das ist tatsächlich eine große Errungenschaft. Es ist etwas Symbolisches, nicht nur für Mexiko, sondern auch für andere Länder. Denn es geht hier um das Entfernen aus dem bundesweiten Strafgesetzbuch. Es ist auch wichtig, dass darüber gesprochen wird. Mexiko-Stadt, wo Abtreibung seit 2007 entkriminalisiert ist, das ist eine Sache. Eine andere hingegen ist die Provinz. In vielen indigenen Gemeinden wird nicht über Gewalt gesprochen, geschweige denn über Abtreibung. Viele Ursprachen etwa haben keinen Begriff für das »Konzept« Gewalt gegen Frauen. Dass über diese Themen endlich gesprochen wird, das ist, Schritt für Schritt, ein Kulturwandel.

Dennoch klagen Betroffene, dass Abtreibung in einzelnen Bundesstaaten weiterhin kriminalisiert werden wird.

Mexiko ist das einzige Land in Lateinamerika, in dem nach diesem Schema verfahren werden kann. Es koexistieren verschiedene Strafgesetzbücher – manche kriminalisieren Abtreibungen, andere nicht. In einigen sieht das Gesetz vor, dass das menschliche Leben ab dem Moment der Empfängnis beginnt, während Schwangerschaftsabbrüche zugleich aber nicht kriminalisiert sind. Ein totaler Wirrwarr. Man kann also nicht behaupten, dass Abtreibung in Mexiko gänzlich entkriminalisiert wurde. Im Bundesstaat Guerrero beispielsweise ist Abtreibung entkriminalisiert. Aber im Gespräch mit Frauenrechtsverteidigerinnen erzählen mir die meisten, dass Frauen, die eine benötigen, der Zugang zu einer Abtreibung verweigert wird.

Ich schätze mal, Sie kommen nicht nur aus reinem Forschungsinteresse zu solch einem komplexen Thema.

Als ich noch sehr jung und im Bachelor war, habe ich mit Freunden ein Projekt gestartet. Wir haben die Murales, die berühmten Wandbilder in den traditionellen Kneipen der Stadt, untersucht. Irgendwann landeten wir dann im Stadtteil La Merced, wo ich sehr junge Mädchen sah. Sie waren vielleicht acht oder zehn Jahre alt. Ein damaliger Freund erklärte mir, dass diese Mädchen zur Prostitution gezwungen würden. Damit war meine Empörung geboren. Später arbeitete ich als Menschenrechtsverteidigerin. Bei Besuchen in Krankenhäusern sah ich viele Minderjährige, die bereits schwanger waren. Es ist schwierig, hier über diese Themen zu reden. Es ist wie ein Monster.

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