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  • »Werteorientierte Politik«

Michael Lüders: Ein Griff ins drehende Rad

Von werteorientierter Politik wird viel geredet, für Michael Lüders ist das ein modernes Märchen

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer immer nach Antworten sucht, die heutige Situation im Land und in der Welt betreffend, dem sei dieses Buch empfohlen. Michael Lüders schreibt Klartext auf Grund umfassender Recherchen. Was er an Fakten zusammengetragen hat, ist aufschlussreich und zum Teil überraschend. Seine Schlussfolgerungen daraus finden sich indes bereits im Titel: »Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen«.

Werte sind freilich etwas Schönes. Menschenwürde, Freiheit … Frieden gehören natürlich dazu. Und Wohlstand für alle auch. Soziale Gerechtigkeit … Wie weit wäre der Weg zu einer werteorientierten Innenpolitik, bevor man anderen Ländern den moralisierenden Schulmeister gibt, der sogar noch den Rohrstock schwingt? Wie schlecht steht das gerade uns Deutschen zu Gesicht.

Im Grunde sei »werteorientierte Politik« ein »modernes Märchen«, so Michael Lüders, »ein rhetorisches Placebo, … das emotionale Zustimmung verheißt und hilfreich vermeidet, das zu benennen, worum es eigentlich geht«. »Hegemoniale Interessen«, die zu verschleiern sind, um die »Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, Unruhen oder gar Aufstände zu vermeiden«. Wobei er mit diesen Thesen auf eine gespaltene Öffentlichkeit trifft. Die einen werden die Überzeugungen des Autors teilen. Die anderen wird er schwerlich auf seine Seite bringen, auch wenn er die »imperiale Ausrichtung« russischer Politik kritisiert und den Einmarsch in die Ukraine verbrecherisch nennt. Er beleuchtet detailliert die Vorgeschichte des Konflikts im Hinblick auf das geopolitische Interesse der USA, nach dem Zerfall der UdSSR keinesfalls einen Schulterschluss der EU mit Russland zuzulassen. Auch stellt er klar, dass der Krieg nicht erst am 24. Februar 2022 begann. Wie die Regierung in Kiew seit 2014 militärisch gegen die Autonomiebestrebungen in der Ostukraine vorging, ist vielen heute nicht mehr bewusst.

Doch Angreifer sind moralisch angreifbar. Mitgefühl für die Überfallenen kann begründen, was sonst keine Zustimmung finden würde. Gegen die naive Vorstellung der deutschen Außenministerin, »Russland zu ruinieren«, setzt er gleich zu Beginn des Buches seine Zweifel: »Kann es gelingen, den größten Flächenstaat der Welt und einen der wichtigsten Energielieferanten wirtschaftlich in die Knie zu zwingen? Die sachliche Antwort lautet kurz und bündig: Nein.« Dagegen treffen »die Folgen der Boykottmaßnahmen Deutschland härter (…) als jedes andere westliche Land und, wie es scheint, auch mehr als Russland selbst«.

Was man nicht so weiß: Die Erdölimporte durch die Pipeline »Drushba« wurden seitens der EU von Sanktionen ausgenommen, sodass Ungarn, Tschechien und die Slowakei weiterhin günstig russisches Öl beziehen können. Niemand hat die Bundesregierung gezwungen, die Importe über Schwedt zu stoppen. Um mit dem »Reich des Bösen ein für alle Mal zu brechen«, wird ein hoher Preis gezahlt. Was nichtrussisches Erdöl kostet und wer daran verdient, hier wird es genauestens dargestellt. »Westliche Mineralölkonzerne konnten ihre Gewinne in astronomische Höhe treiben, und russisches Öl, ›neu etikettiert‹, kommt zu uns zu fantastischen Aufpreisen.« US-Konzerne verdienen daran sehr gut. Den langfristigen Lieferverträgen für billiges russisches Gas verdankt die deutsche Wirtschaft viel. Der Verzicht darauf wird sich in den nächsten Jahren noch stärker auswirken, ist sich Lüders sicher.

Dafür hat er ein anschauliches Bild gewählt: »Aus ideologischen Gründen in weltweite Lieferketten einzugreifen, ähnelt einem Griff in die Speichen bei laufendem Rad.« Viele Unternehmen verlagern schon ihre Produktion ins Ausland, wo die Energiepreise günstiger sind. Aber ist Deutschland damit tatsächlich »auf dem Weg in die Deindustrialisierung«?

Dem Wandel der Grünen zur Kriegspartei gilt ein ganzes Kapitel. Es gibt bei den Regierenden eine große Entfernung zu den Malochern, »die zu viel duschen, mehr Fleisch als Gemüse essen, zu dick sind, die falschen Autos fahren und einfach nicht verstehen wollen, dass in der Ukraine auch unsere Freiheit verteidigt wird«. Auch wirft er ein Schlaglicht auf den ukrainischen Nationalismus und die Korruption im Land bis hin zur Verherrlichung von Nazismus, was doch auch dem westlichem Werteschema klar widerspricht. Für Lüders ist »der Krieg in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg zwischen Washington und Moskau« und zwar seit dem Mai 2021, als die Kämpfe in der Ostukraine an Intensität zunahmen und russische Truppen an der Grenze aufmarschierten. Lüders spricht von 250 000 Toten seitdem und stellt dar, welche Friedensverhandlungen es gab und wie sie scheiterten.

Zwar gibt es eine milliardenschwere Unterstützung der Ukraine durch die USA, doch diese ist als Darlehen deklariert. Wie die jüngsten Auseinandersetzungen um den US-Haushalt zeigen, bei dem neue Hilfsleistungen an die Ukraine ausgeklammert wurden, wird in der US-Politik inzwischen aus Kosten-Nutzen-Erwägungen vorsichtig zurückgerudert. Die deutsche Politik ist davon unbenommen, stellt Lüders in seinem Buch fest: »Die Tragik der Deutschen besteht darin, dass sie in ihrer großen Mehrheit subjektiv davon überzeugt sind, es gäbe tatsächlich eine ›Wertegemeinschaft‹ mit den USA, sie seien gar unsere ›Schutzmacht‹. In Wirklichkeit sind wir aus amerikanischer Sicht geostrategische Verfügungsmasse (›nützliche Idioten‹ wäre sachlich nicht falsch) und ein wirtschaftlicher Konkurrent, den es einzuhegen gilt.« In dem von Washington geschürten Konflikt mit China, auf den Michael Lüders im letzten Kapitel eingeht, könnten diese moralischen Missverständnisse eine Fortsetzung finden.

Michael Lüders: Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen. Goldmann, 256 S., br., 18 €.
nd-Literatursalon mit Michael Lüders am heutigen Mittwoch um 18 Uhr im FMP1, Franz-Mehring-Platz 1, Berlin.

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