Israel bildet Kriegskabinett

Israelis geben der Regierung die Schuld am Überraschungsangriff von Hamas und Islamischem Dschihad

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Noch immer steht Israel unter heftigem Beschuss, gehen täglich hunderte Raketen nieder, steigt die Zahl der Opfer. Das Militär reagiert mit massiven Angriffen auf den Gazastreifen, einer totalen Blockade; die Opfer dort: ebenfalls hunderte Zivilisten.

Wie es weitergeht, soll eine Notstandsregierung regeln: Schon vor einigen Tagen hatte das Kabinett offiziell den Kriegszustand ausgerufen, eine Maßnahme, die vor allem die politische Handlungsfreiheit erweitert: Gesetzlich vorgeschriebene Termine können verschoben, die Versammlungsfreiheit kann eingeschränkt werden, unter anderem. Und jetzt wurden auch alle Gesetzgebungsverfahren auf Eis gelegt; bis auf Weiteres besteht das »Kriegskabinett« nur noch aus drei Personen: Regierungschef Benjamin Netanjahu, Verteidigungsminister Joaw Galant und Oppositionsführer Benny Gantz, einem ehemaligen Generalstabschef. Als Beobachter ist Gadi Eisenkot dabei, ebenfalls Ex-Generalstabschef. Und für Jair Lapid, Chef der zweitgrößten Oppositionsfraktion, wurde ein Platz reserviert.

In der Öffentlichkeit geschieht derweil etwas völlig Unübliches: Sie hat sich nicht, wie in vorangegangenen Kriegen, »unter der Fahne vereint«, stellt Kritik an Regierung und Militärführung nicht zurück. Vier von fünf Israelis geben der Regierungskoalition die Schuld am Überraschungsangriff von Hamas und Islamischem Dschihad. Mehr als die Hälfte ist der Ansicht, dass Netanjahu und Gantz nach dem Ende des Krieges zurücktreten müssen.

Solche Umfragen sind immer eine Momentaufnahme: In drastischen Momenten wie beispielsweise dem Friedensschluss mit Jordanien Anfang der 90er Jahre oder einem Kriegsausbruch wie dem Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren erlebt man stets eine Spitze, allerdings bislang immer für die Regierung, egal wie unbeliebt sie im Tagesgeschäft ist. Diesmal ist das anders.

Denn es war nicht nur der Angriff am Samstag. Auch die Reaktion darauf wirkte unkoordiniert und verspätet: Schon am Wochenende hatten Gantz und Lapid ihre Bereitschaft signalisiert, in eine Notstandsregierung einzutreten. Bedingung: Die Zahl der Entscheidungsträger müsse auf ein Minimum reduziert werden. Doch noch am Mittwochmorgen berichtete das Nachrichtenportal ynet.co.il, Gantz’ Team sei skeptisch. Denn aus Netanjahus Umfeld habe man erfahren, dass Sara Netanjahu gegen die Bildung eines kleinen Notkabinetts und die Aussetzung von Gesetzgebungsverfahren wie der umstrittenen Justizreform sei. Sara Netanjahu, das ist die Ehefrau des Regierungschefs.

Aus dem westlichen Ausland gehen derweil die Solidaritätsbekundungen ein; US-Außenminister Anthony Blinken flog sogar eigens ein, um die volle Unterstützung der USA zu versprechen. Ein Flugzeugträgerverband wurde bereits ins östliche Mittelmeer verlegt; ein weiterer ist auf dem Weg. Offiziell heißt es aus Washington, dies diene der Unterstützung und Überwachung. Eine direkte Beteiligung an den israelischen Angriffen auf die Hamas und den Islamischen Dschihad sei nicht geplant.

Doch im Raum steht immer auch die Möglichkeit einer Ausweitung des Kriegs: Noch gebe es keine Belege für eine Beteiligung des Iran, betonen Weißes Haus und Pentagon immer wieder, doch angemerkt wird stets auch: Die Hamas hat kein Geld, auch nicht das Know-how für einen derart sorgsam orchestrierten Angriff, der eine sehr umfassende Vorbereitung erfordert haben muss. Und sollte sich herausstellen, dass der Iran oder ein anderer Staat in der Region im Hintergrund mitgewirkt hat, ist eine militärische Reaktion Israels zumindest nicht unwahrscheinlich – ebenso wie ein weiterer Angriff, beispielsweise durch die Hisbollah im Libanon. Immer wieder gibt es Raketenabschüsse vom Süd-Libanon aus, kurze Kampfhandlungen. Doch noch bemühen sich beide Seiten, die Lage nicht eskalieren zu lassen.

Der Fokus der neuen Notregierung liegt ohnehin auf dem Gazastreifen. Vor einigen Tagen hat Israels Militär die Grenzübergänge geschlossen, die Stromlieferungen eingestellt. Denn auch das gehört zur Realität. Israel und die Hamas sind miteinander verfeindet; dennoch bezog die Hamas-Regierung in Gaza bislang einen Großteil des Stroms sowie Benzin, Öl und Gas aus Israel. Alle Güter können nun erst einmal nur über Ägypten in den von über zwei Millionen Menschen bewohnten Landstrich eingeführt werden, doch dafür ist dort die Logistik nicht vorhanden. Die Straße ist zu eng, es fehlt an Lastwagen.

Und das Kriegskabinett wird die Lösung finden müssen, die die Sicherheit für Israel wiederherstellt und weitere Angriffe verhindert; ein Plan für die Zukunft muss her. Denn auch wenn die Forderung nach einer Bodenoffensive laut ausgesprochen wird: Israels Militär wird Gaza nicht auf Dauer kontrollieren können. Zudem muss man sich ethischen Fragen stellen. Denn das Völkerrecht wurde dazu gemacht, um zwischen Richtig und Falsch zu unterscheiden, wenn die Wut, der Wunsch nach Rache zu groß wird.

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