Palästinensische Diaspora in Berlin: Wut, Angst, Verzweiflung

In Berlin lebt die größte palästinensische Diaspora Europas – drei Gespräche über das Leben im Exil und die aktuellen Spannungen

  • Nora Noll und Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 10 Min.
Am Samstag nahmen Tausende an einer der wenigen erlaubten Demonstrationen in Berlin teil, um ihre Solidarität mit Palästina auszudrücken.
Am Samstag nahmen Tausende an einer der wenigen erlaubten Demonstrationen in Berlin teil, um ihre Solidarität mit Palästina auszudrücken.

Straßenkämpfe in Neukölln, brennende Barrikaden auf der Sonnenallee, »Allahu-Akbar«-Rufe auf dem Pariser Platz und ein bekannter gewaltsamer Übergriff auf ein hebräisch sprechendes Paar. Und zugleich: Racial Profiling von arabisch aussehenden Menschen, Diskriminierung von palästinensischen Kindern und Jugendlichen an Schulen, Videos von brutalen Polizeieinsätzen gegen verbotene Versammlungen. Seit dem 7. Oktober, den Massakern der Hamas an israelischen Zivilist*innen und den israelischen Bomben, die seitdem Tausende Menschen im Gaza-Streifen töten, blickt die Welt in den nahen Osten – und auf Berlins Straßen, wo sich der Konflikt auf zweiter Ebene Bahn bricht.

In Berlin lebt die größte palästinensische Diaspora in ganz Europa, die Zahl der Menschen wird von 70 000 auf bis zu 100 000 geschätzt. Es sollte selbstverständlich sein, doch in aufgeheizten Zeiten sagt man es lieber dazu: Eine derart große Gruppe ist nicht homogen. Nur ein Bruchteil der palästinensischen Community geht überhaupt auf politische Versammlungen, ein noch viel kleinerer Teil macht mit bei der Eskalation. Wir haben mit drei palästinensischen Berliner*innen gesprochen, um zumindest etwas besser zu verstehen: Wie geht es der Community? Was treibt sie um? Und was sagen sie zum Nahost-Konflikt, wenn man ihnen zuhört?

Bilal: Legitimer Widerstand

Bilal braucht ein paar Minuten, um einen Parkplatz zu finden. Das ist hier nicht einfach. Endlich hat er eine Stellfläche für sein Auto und kommt zum Treffpunkt – ins »Schwarze Café« an der Kantstraße in Berlin-Charlottenburg. Er lächelt freundlich, hängt seine Jacke über die Stuhllehne, legt sein Palästinensertuch ab und setzt sich. Dann greift er beinahe hastig nach diesem Tuch und wickelt es wieder um seinen Hals. Es ist ein demonstrativer Akt. Denn es hat noch ein anderer Gast den Raum betreten, ein paar Tische weiter vorn Platz genommen. Der Mann trägt einen Anstecker mit Israel-Flagge und hat einen skeptischen Blick auf Bilals Kufiya geworfen.

Bilal ist 39 Jahre alt, arbeitet als Arzt in einem Berliner Krankenhaus, ist inzwischen deutscher Staatsbürger. Aber geboren und aufgewachsen ist er im Gaza-Streifen. Wie das war? »Total super«, erzählt er verblüffenderweise. Schon damals seien Bomben gefallen, auch wurde sein Vater wegen politischer Tätigkeit mehrfach verhaftet und saß im israelischen Gefängnis. Aber er sei ein Kind gewesen und habe nichts anderes gekannt. Er selbst erfuhr diese Gewalt aus einer relativen Distanz. Das änderte sich erst 2002, als er einen 17-jährigen Freund zu Grabe tragen musste. Bilal hieß dieser Jugendfreund und so möchte der palästinensische Arzt in der Zeitung genannt werden, obwohl er einen anderen Namen trägt. Auch 16 Familienmitglieder haben inzwischen ihr Leben eingebüßt, zuletzt einer im Einsatz als Fahrer eines Rettungswagens.

2003 ging Bilal nach Berlin. In Gaza wohnen weiterhin seine Eltern und drei Schwestern. Jetzt ist jeden Morgen sein erster Gedanke und seine Hoffnung: »Sie leben noch.«

Mit neun Personen wohnte seine Familie in einem alten Haus, durch dessen Dach es hereinregnete, erinnert sich der Arzt an seine Jugend. »Wir waren untere Mittelklasse, würde ich sagen. Ich habe keinen Hunger gelitten und hatte alles, was ich brauchte. Ich brauche nicht viel.« Er war mit wenig zufrieden. »Milchprodukte kannte ich als Kind nur als Pulver.« Von den Hilfslieferungen. Chronisch unterernährt seien in Gaza alle Kinder gewesen.

Doch Bilal möchte keineswegs als Opfer angesehen werden. Für ihn sind die aktuellen Ereignisse in der alten Heimat eine »Feuerprobe« für deutsche Linke: Ob sie die berechtigten Anliegen der Palästinenser*innen nicht nur solange unterstützen, solange die Palästinenser*innen die Opfer sind, sondern auch noch, wenn sie sich wehren. Ihr Widerstand sei legitim.

Bilal engagiert sich bei »Palästina spricht«, einer Initiative mit Gruppen in sieben deutschen Städten, die größte davon in Berlin. Gegründet wurde »Palästina spricht« als Reaktion auf die zunehmenden Schwierigkeiten der BDS-Bewegung, ihr Ziel eines Boykotts israelischer Waren propagieren zu dürfen. Ihm ist bewusst, dass der Boykottaufruf in der Bundesrepublik schlimme Erinnerungen an die historische Naziparole »Kauft nicht beim Juden« wachruft. Er nennt es aber »perfide«, diesen Vergleich zu ziehen. Nirgendwo heiße es in der BDS-Kampagne: »Kauft nicht beim Juden!«

Die Kampagne sei vielmehr angelehnt an die einstigen Boykotte des südafrikanischen Apartheid-Regimes, das die Schwarzen im Land massiv unterdrückte und entrechtete. »Palästina spricht« lehne jede Form von Rassismus grundsätzlich ab, auch antijüdischen Rassismus, versichert der 39-Jährige. »Die Juden gehören zur palästinensischen Kultur. Das war schon immer so.« Sie sollen keinesfalls vertrieben werden.

Bilal steht politisch links. Er ist Atheist. Ganz am Ende des Gesprächs betont er noch einmal ganz ausdrücklich, was eigentlich für jeden Arzt selbstverständlich sein sollte, der einen Eid geleistet hat, Menschenleben zu retten: »Ich bedauere jedes zivile Opfer. Das habe ich schon 1000 mal gesagt. Aber niemand, der noch nie ein Wort zur Diskriminierung der Palästinenser verloren hat, besitzt das Recht, von mir zu verlangen, dass ich es zum 1001. mal sage.«

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Nadja Taufik: Das Gefühl des Nicht-Erwünscht-Sein

Wer den Schmerz der palästinensischen Community in Berlin verstehen will, muss mit Nadja Taufik sprechen. Die 29-jährige Deutsch-Palästinenserin gehört zu der propalästinensischen Gruppe »Feminist Bloc«, die »Palästina spricht« nahesteht. Sie ist in Berlin geboren und aufgewachsen. Aber als Kind war sie staatenlos – wie viele Menschen mit palästinensischem Hintergrund in Deutschland.

In den 80er Jahren kamen Tausende palästinensische Geflüchtete aus dem Libanon nach Berlin. »Im Libanon lebten sie unter absolut unmenschlichen Bedingungen, in Camps, wo es keine sozialen Dienste und unzulängliche Infrastruktur gab. Aber in Deutschland wurden sie nicht als Flüchtlinge anerkannt«, erzählt Taufik. Stattdessen erhielten sie eine Duldung nach der anderen – ein Papier, das keinen sicheren Aufenthalt und somit keine grundlegenden Rechte gewährt, sondern die Anwesenheit nur solange »duldet«, bis eine Abschiebung möglich wird. »Ketten-Duldungen sind ein palästinensisches Trauma: Wir dürfen nicht hier sein, aber können nicht in unser Land zurück«, bezieht sich Taufik auf das fehlende Rückkehrrecht palästinensischer Geflüchteter. »Das ist auch ein Klassenkampf von oben, weil man sich nichts aufbauen kann und arm gemacht wird.«

Ihre persönliche Situation sieht so wie die vieler Palästinenser*innen der zweiten und dritten Generation besser aus. Palästinenser*innen, die nicht aus Syrien oder dem Libanon, sondern meist mit einem Studiums-Visum direkt aus Palästina kommen, hätten dafür weiterhin einen vulnerablen Status. Taufik erwähnt etwa einen Freund, dem sein Visum entzogen wurde, weil er an propalästinensischen Demonstrationen teilgenommen hatte.

Das Gefühl des Nicht-erwünscht-Seins bleibt für Taufik bestehen. Sie hat den Eindruck, dass allein die Existenz Palästinas in Deutschland nicht überall anerkannt werde. Die Situation jetzt beschreibt sie als »absoluten Horror«. »Es gibt diese Stimmung in Politik und Medien, dass unsere Leben und unsere politischen Forderungen nicht zählen

Taufik erzählt viel über das Leid der Menschen im Westjordanland und im Gaza-Streifen, über die Siedlungspolitik Israels und die Niederschlagung friedlicher Proteste gegen die Besatzung durch das israelische Militär. Dabei klingt eine Bitterkeit, manchmal sogar eine Härte durch, die es ihr spürbar schwer machen, den Terror der Hamas ohne Wenn und Aber zu verurteilen. »Ja, es gibt diese Geiseln und das ist extrem besorgniserregend. Aber Dekolonisierung ist kein Kunst-Projekt«, sagt sie. Zugleich betont sie, dass sie und ihre Gruppe keinen Antisemitismus befürworten, »ganz im Gegenteil. Aber ich habe das Gefühl, das spielt gar keine Rolle mehr, wenn wir das sagen.«

Die Wut auf Berlins Straßen kann sie verstehen. »Das wird mitgeschürt von Politik und Medien. Wenn man Menschen keinen Ort lässt, um weder ihre Trauer noch politische Forderungen öffentlich auszudrücken, dann wird sich das Bahn brechen.« Die Krawall-Szenen und Straßenschlachten scheinen ihr politisch gewollt: »Das entspricht ja genau dem rassistischen Bild von den wilden, barbarischen Ausländern und Muslimen.«

Zugleich ist es ihr wichtig, dass die palästinensische Jugend ein sinnvolles Ventil für ihre Wut findet. Der »Feminist Bloc« bemühe sich um politische Bildung. Denn auch wenn so gut wie jede palästinensische Familie politische Diskussionen führe, gebe es einige Jugendliche, »deren Analyse aufgrund von Rassismus-Erfahrung und einem naiven Medien-Konsum nicht voll ausgereift ist«, so Taufik. »Da sehen wir es als unsere Aufgabe, uns den Jugendlichen zu widmen und zu zeigen, wie man sich organisiert und ohne Gewaltverherrlichung politische Forderungen voranbringt.« Von den Ausschreitungen möchte sie sich aber nicht distanzieren. Wenn es auf der 1. Mai-Demo knallen dürfe, warum dann nicht auch auf palästinensischen Demos?

Fouad El Haj: Zuhören für einen gerechten Frieden

Fouad El Haj weiß nicht weiter. So verfahren ist die Lage, dass der 45-jährige Deutsch-Palästinenser immer wieder ins Stocken kommt, Sätze abbricht, neu anfängt. Seit 2014 engagiert er sich als Vorsitzender des Berliner Vereins »Palästinensische Stimme« für einen »gerechten Frieden«: »Es geht einfach darum, die Menschen, die hier in Deutschland leben, über den Konflikt in Israel-Palästina aufzuklären, die deutsche und auch die palästinensische Jugend.« Nur mit Austausch und gegenseitigem Verständnis könnte Frieden entstehen, ist El Haj überzeugt. »Wir wollen unterscheiden: Nicht jeder Palästinenser ist ein Terrorist, und nicht jeder Israeli unterstützt die Siedlungspolitik.«

Doch zur Zeit muss er dabei zuschauen, wie sich die Fronten in Berlin verhärten, bis es knallt. »Die Stimmung ist sehr angespannt, es herrscht großer Frust«, sagt El Haj. Berechtigter Frust, wie er findet: Da sind die Demonstrationsverbote, die es der palästinensischen Community in seinen Augen unmöglich machen, friedlich um die Toten im Gaza-Streifen zu trauern. Da sind die Verbote palästinensischer Symbole an Berliner Schulen. »Eltern rufen mich an und fragen, wie kann das sein, dass mein Kind nicht die Farben Palästinas tragen darf«, erzählt El Haj, der als Organisator eines palästinensischen Kulturfestivals zu einer Ansprechperson für die Community geworden ist.

Auch seine 10-jährige Tochter habe diese Ungleichbehandlung erlebt: Ihre Lehrerin habe ihr das Tragen eines Armbands in den Farben der palästinensischen Flagge verboten. »Da war noch nicht einmal die Flagge selbst und schon gar kein Symbol drauf. Sie hatte das Armband von ihrem verstorbenen Großvater erhalten und sie liebt es.« Die Gleichsetzung von Palästina und Hamas empört El Haj. »Wir können uns nicht von unserer Herkunft distanzieren.«

El Haj erkennt den Frust, spürt ihn selbst. Und trotzdem: Dieses Gefühl dürfe seiner Meinung nach niemals in Gewalt münden. Der versuchte Brandanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Wedding schockiert ihn. »Das ist aufs Tiefste zu verurteilen.« »Deppen« nennt er die Leute, die dafür verantwortlich sind, und »Idioten«. Anschläge auf jüdische Einrichtungen schaden jedem Bemühen um einen gerechten Frieden, wie er ihn sich wünscht. Ebenso distanziert er sich von Parolen wie »Kindermörder Israel« oder »Palästina bis zum Sieg«, die Israel dämonisieren und Gruppendenken befeuern.

Mit seinen Positionen steht El Haj nicht allein da, betont er. »Viele denken wie ich.« Wie aber diejenigen aus der palästinensischen Community erreichen, die nicht mehr differenzieren und ihrer Wut freien Lauf lassen? »Das ist eine gute Frage. Ich habe keine Antwort.«

Eine Idee hat er dann doch: Es bräuchte mehr und besser geförderte Aufklärungsprogramme für junge Menschen. Und die staatliche Bekenntnis, dass eine Solidarisierung mit den von Krieg und Siedlungspolitik betroffenen Palästinenser*innen legitim ist. »Wir wissen ganz genau, welche Verantwortung Deutschland gegenüber Israel hat«, sagt er. Öffentliches Gedenken an Palästina zu unterbinden, würde aber den Konflikt nur weiter anheizen.

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