Berliner Senat gegen »Oyoun«: Im Zentrum der Empörung

Dem Neuköllner Kulturzentrum »Oyoun« wird Antisemitismus vorgeworfen, nun äußert sich das Haus

Offene Grenzen, queere Rechte und Antifaschismus hat sich das Kulturzentrum Oyoun in Neukölln wortwörtlich auf die Fahnen geschrieben, trotzdem gibt es nun Antisemitismus-Vorwürfe.
Offene Grenzen, queere Rechte und Antifaschismus hat sich das Kulturzentrum Oyoun in Neukölln wortwörtlich auf die Fahnen geschrieben, trotzdem gibt es nun Antisemitismus-Vorwürfe.

In einem gelben Backsteinhaus in Neukölln findet die Kultur statt, die sich selbst gerne im Widerspruch zur klassischen Hochkultur verortet. Das Kulturzentrum »Oyoun« denkt Kunst nicht ohne Machtkritik, verbindet Ausdruck und Emanzipation und steht für all das, was Rechte an dem »woken Berlin« ablehnen: Hier zeigt ein*e nichtbinäre*r afroamerikanische*r Tanzkünstler*in anderen Bipoc Personen, wie sich der aus einer trans- und Drag-Tradition kommende Ballroom-Stil tanzen lässt. Hier finden Lesungen statt, die sich mit Inklusion, Rassismus und Unterdrückung auseinandersetzen und durch Gebärden-Dolmetschung für Gehörlose zugänglich sind. Und hier veranstaltet die Gruppe »Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden im Nahen Osten« am Samstag eine politische Gedenk- und Diskussionsrunde.

Dieser Termin sorgt seit Wochen für Aufregung. Der Vorwurf: »Oyoun« lade eine antisemitische Gruppe ein. Eine Aufforderung durch die Senatskulturverwaltung, die Veranstaltung abzusagen, hatte das Kulturzentrum abgelehnt. Am Dienstag forderte die Neuköllner Grünen-Abgeordnete Susanna Kahlefeld in einer Pressemitteilung, »alle Kooperationen des Kulturamts Neukölln mit Oyoun zu beenden«. »Oyoun« erhalte derzeit eine jährliche Förderung von 1 Millionen Euro sowie Lottomittel für Projekte. Die Kulturverwaltung teilte gegenüber »nd« mit, »die Förderung des Oyouns zuwendungsrechtlich sorgfältig zu überprüfen«, um schnell zu einem Ergebnis zu kommen.

Dabei klingt der Termin am kommenden Samstagabend harmlos. Zum 20-jährigen Bestehen und »im Schatten des 7. Oktober, der anhaltenden Bombenangriffe auf Gaza und der entsetzlichen Zahl ziviler Opfer« möchte der Verein sein Jubiläum nicht feiern, sondern lädt zu einer »Trauer- und Hoffnungsfeier« ein. Die soll mit einer »Shiva«, also dem traditionellen Essen bei einer Totenwache, mit Redebeiträgen und im Rahmen einer Kunstausstellung zweier Künstler*innen aus Israel und Gaza begangen werden. So steht es auf der Website von »Oyoun«.

Die Kritik macht sich allerdings nicht an dem Event selbst, sondern an der vermeintlich antisemitischen Grundhaltung der »Jüdischen Stimme« fest. Am 10. Oktober veröffentlichte die Gruppe ein Statement, das die Terror-Angriffe der Hamas auf Israel vom 7. Oktober mit einem »Gefängnisausbruch« verglich. Kritiker*innen lasen das als Verharmlosung und Legitimierung des Terrors.

Das vollständige Statement findet sich nach wie vor auf der Instagram-Seite der Initiative. Auf acht Slides wird darin zuerst die Trauer um die Toten und die Angst um Freund*innen und Verwandte benannt. Danach geht es um Wut auf die israelische Regierung, auf das »Kolonialregime und die Blockade des Gazastreifens, die zu diesen Ereignissen geführt hat«. Die Gruppe versucht, die historischen Gründe für den Terror nachzuzeichnen. »Nun ist eingetreten, wovor viele in unseren Reihen seit Jahren gewarnt haben«, schreibt sie. »Was nun geschehen ist, glich einem Gefängnisausbruch, nachdem die Insassen zur lebenslangen Haft verurteilt wurden, nur weil sie Palästinenser*innen sind.«

Wieland Hoban, Vorsitzender der »Jüdischen Stimme«, möchte dieses Statement als Erklärung, nicht als Rechtfertigung verstanden wissen. »In der deutschen Öffentlichkeit wird kaum angemessen über die Verhältnisse in Gaza und im gesamten Bereich Israel-Palästina gesprochen, sodass der Kontext solcher Gewalt geradezu unsichtbar ist«, sagt er zu »nd«. Den Vorwurf, dass seine Gruppe etwas verteidige, »was so grauenvoll und tragisch ist«, empfindet Hoban als anmaßend – vor allem, weil einige Mitglieder aus Israel stammten und deshalb persönlich betroffen seien.

Hoban ärgert sich, dass in der bisherigen Auseinandersetzung die »Jüdische Stimme« nicht einbezogen wurde, obwohl sie der Auslöser für die Vorwürfe gegen »Oyoun« war. »Der Senat hat sich von Anfang an geweigert, überhaupt mit uns zu sprechen und hat lediglich Druck auf Oyoun ausgeübt.«

Auch in der bisherigen Berichterstattung sei nicht die Initiative selbst kontaktiert worden, um etwa eine Stellungnahme zu ermöglichen. Hoban hat den Eindruck, dass die Perspektive seiner Gruppe gar kein Gehör finden soll, weil sie sich zur Solidarität mit Palästinenser*innen bekennt. »Es wird hier ein Widerspruch aufgemacht zwischen unserer jüdischen und auch israelischen Identität und zugleich einer Solidarität mit Palästinensern.«

Seit der Gründung vor 20 Jahren will der jüdische Verein diesen Widerspruch infrage stellen und »das geschichtliche und gegenwärtige Unrecht gegen die Palästinenser hervorheben und bekämpfen«. Deshalb bedeute ihm die Veranstaltung am Samstag viel. »Unsere Stimmen sind marginalisiert. Das ist ein wertvoller Anlass, um ungehindert über unsere Arbeit und über die Bedeutung der Solidaritätsbewegung sprechen zu können.«

Als »Einschüchterung« bezeichnet Louna Sbou die vergangenen Wochen gegenüber »nd«. Sbou hat »Oyoun« mitgegründet und ist für die künstlerische Leitung und Geschäftsführung verantwortlich. Dass es politischen Widerstand gegen die Veranstaltung der »Jüdischen Stimme« gibt, überrascht Sbou nicht. Seit der Gründung 2020 habe es bereits drei Situationen gegeben, wo die damals noch linksgeführte Kulturverwaltung unter Klaus Lederer die Absage von Events mit Palästina-Bezug gefordert hätte. »Auch wenn es damals schon extrem war, ist es jetzt eine andere Dimension.« Denn die jetzige CDU-Kulturverwaltung unter Joe Chialo hätte kein Interesse an Gesprächen.

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Sbou erzählt die Chronologie der Ereignisse nach: Im Juli hätte sich »Oyoun« an die neue Verwaltung gewandt, um sich vorzustellen und bereits die Veranstaltung der »Jüdischen Stimme« im November anzukündigen. Am 24. August folgt ein Videocall. »Sie wollten, dass wir uns distanzieren und die Veranstaltung wegen vermeintlicher BDS-Nähe absagen«, so Sbou. Doch »Oyoun« sagt nicht ab, ein zweiter Videocall eskaliert. »Die Staatssekretärin meinte, dass die Kunstfreiheit endet, wenn es für den Senat zu brisant wird.«

Seitdem kommuniziere die Verwaltung nur noch postalisch mit dem Kulturzentrum. Mitte Oktober seien erst zwei Briefe mit Fragen zu dem Termin der »Jüdischen Stimme« gekommen, »wie viele Leute wir erwarten, was die Mieteinnahmen sind«, und schließlich die schriftliche Aufforderung zur Absage.

Sbou empfindet diese Aufforderungen als Einschränkung der Kunst- und Meinungsfreiheit, also elementarer Bestandteile ihrer Arbeit. »Es ist für uns selbstverständlich, dass wir Räume öffnen für Diskussionen. Das Schlimmste, was man machen kann, ist, Gruppen zu zensieren, wenn man eigentlich ein Aufeinander-Zugehen fördern könnte.« Die Empörung hat wiederum mehr staatliche Repression zur Folge: Sbou berichtet, dass Polizist*innen »Oyoun« im Vorfeld einer Podiumsdiskussion am Mittwochabend einen Besuch abstatteten, bei der es über Polizeigewalt seit dem 7. Oktober in Neukölln gehen sollte. »Sie wollten wissen, ob dabei zu Gewalt aufgerufen wird und ob es einen Palästina-Bezug hat.«

Sbou betont, dass das Haus eine politische Haltung vertritt, die sich gegen jede Unterdrückung stellt. »Deshalb wollen wir auch über ermordete palästinensische Zivilist*innen sprechen, über die Repression in Deutschland – und eben das Schüren von Ressentiments, die auch uns trifft.« Tatsächlich ist »Oyoun« vom Senat abhängig. Zuletzt sei ihnen zwar eine Förderung über 2025 hinaus in Aussicht gestellt worden, sagt Sbou. »Deshalb haben wir jetzt Projekte, die über 2026 hinauslaufen, haben Verträge verlängert und Menschen aus dem Ausland eingestellt mit der Aussicht, dass sie hierbleiben können.«

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