Letzte Generation: »Sind organisiert wie ein modernes Start-up«

Lea Bonasera, Mitgründerin der Letzten Generation, hat ein Buch über die Strategie des zivilen Widerstands geschrieben

  • Interview: Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 9 Min.
Die »Macht des Ausgeliefertseins«: Lea Bonasera lässt sich nach einem Protest von der Polizei wegtragen. Die Letzte Generation wehrt sich nie gegen solche Maßnahmen, sondern macht sie sichtbar – zum Beispiel in den sozialen Medien.
Die »Macht des Ausgeliefertseins«: Lea Bonasera lässt sich nach einem Protest von der Polizei wegtragen. Die Letzte Generation wehrt sich nie gegen solche Maßnahmen, sondern macht sie sichtbar – zum Beispiel in den sozialen Medien.
Interview
Autorin: Lea BonaseraFoto: © Norman Konrad / Der SpiegelDas Foto...


Lea Bonasera (26) studierte Internationale Beziehungen in Amsterdam und Oxford und promoviert nun zu zivilem Ungehorsam in Demokratien. 2021 war sie im Hungerstreik, um ein Gespräch mit Olaf Scholz (SPD) über den Klimanotstand durchzusetzen. Sie ist Mitbegründerin der Letzten Generation und Autorin des Buches »Die Zeit für Mut ist jetzt! Wie uns ziviler Widerstand aus Krisen führt« (Fischer, 224 S., 18 €).

Vor zwei Jahren haben Sie die Letzte Generation mitgegründet und nun ein Buch über die Strategien Ihrer Gruppe geschrieben. Es endet damit, dass Sie sich auf Ihren ersten Gerichtsprozess vorbereiten. Sie schreiben, dass Sie sich darauf freuen, als Frau angehört zu werden. Nun standen Sie schon zum dritten Mal vor Gericht wegen eines Protests, bei dem Sie in einer reinen Frauengruppe Forderungen an das Bundeskanzleramt gemalt hatten. Wie war das?

Ich habe versucht – und das ist auch Anliegen meines Buches – wissenschaftliche Erkenntnisse in die Debatte reinzubringen, weil da einfach viele Missverständnisse kursieren, die sich mit den Sozialwissenschaften nicht decken. Studien zeigen, dass ziviler Widerstand effektiv ist – und noch effektiver, wenn Frauen dabei sind. Unter den 16 Friedensnobelpreisträger*innen waren elf Frauen, die friedliche Bewegungen geleitet haben. Über zivilen Widerstand können wir eigentlich gar nicht sprechen, ohne über Frauen oder Minderheiten zu sprechen, die ja oft aus politischen Räumen ausgeschlossen waren und sich erst mal Gehör verschaffen mussten und dabei die Mittel des zivilen Widerstands mit entwickelt haben. Ich würde mir wünschen, dass das mehr gesehen wird. Die Richterin hat sich davon durchaus beeindruckt gezeigt. Deswegen bin ich sehr hoffnungsvoll, dass wir da einen Freispruch bekommen. Es wurde aber noch kein Urteil gesprochen.

Sie schreiben, Sie möchten mit Ihrem Buch »die Debatte geraderücken«. Wann und wie ist die Debatte denn verrückt?

Von Anfang an gab es viele Stimmen, die unseren Protest kriminell, antidemokratisch und ineffektiv genannt haben. Da haben auch verschiedene Medien mitgemacht, was ich fatal finde. Es geht beim zivilen Ungehorsam ja um die Frage: Wo liegt die Macht? Ich glaube sehr stark daran, dass sie bei den Bürger*innen liegt. Das sollte unter anderem durch Medien vermittelt werden. Deshalb fand ich es wichtig, unsere Strategie mal für eine breitere Masse zu erklären.

Sie belegen den Erfolg von zivilem Widerstand mit historischen Beispielen wie den Montagsdemonstrationen oder den Anti-Akw-Protesten. Dabei wurde allerdings selten so eine breite Masse in ihrem Alltag gestört, wie die Letzte Generation es mit den Straßenblockaden tut. Sind die Strategien also überhaupt vergleichbar?

Stimmt, das ist anders. Es gibt aber auch bei den Methoden Parallelen zu früheren Bewegungen, zum Beispiel zur queeren Bewegung Act Up, die unter anderem auch mit Sitzblockaden gestört hat. Und auch bei den Beispielen, die ich genannt habe, gab es anfangs viele Menschen, die den Protest nicht gut fanden, weil bekannte Narrative ja erst mal dekonstruiert werden müssen. Die Massen folgen in der Regel ihrem normalen Leben, statt auf die Straße zu gehen. Die Proteste werden oft erst im Nachhinein so glorifiziert, als hätten sie nie Gegner*innen gehabt. Es liegt im Naturell des Protests, erst mal zu stören.

Sie machen im Buch deutlich, wie strategisch der zivile Widerstand ist, wie viel Arbeit dahinter steckt und dass Gewaltfreiheit nicht nur aus moralischen Gründen wichtig ist, sondern auch als Taktik. Sie nennen es die »Macht des Ausgeliefertseins«, mit der Sie Repression sichtbar machen, zum Beispiel mit Videos von Polizeigewalt in den sozialen Medien. Was kann diese Macht politisch bewirken?

Wir fordern den Staat heraus, und es liegt in der Natur der Dinge, dass der Staat, der seine Macht erhalten muss, darauf reagiert. Auf diese Dynamik muss Widerstand vorbereitet sein. Dass wir demgegenüber friedlich bleiben, bedeutet übrigens nicht, dass wir die Polizei nicht kritisieren. Wir haben gerade erst Beschwerde gegen die Anwendung von Schmerzgriffen eingereicht. Aber wir haben an verschiedenen Stellen gesehen, dass die Sichtbarmachung der Repression eine Macht entfaltet, zum Beispiel bei den Hausdurchsuchungen. Das war eine Maßnahme, die uns einschüchtern sollte, die im Endeffekt aber dazu geführt hat, dass in kürzester Zeit Tausende von Menschen in Solidarität mit uns auf die Straße gegangen sind. Der Staat ist natürlich riesig und hat sehr viele Möglichkeiten der Repression und Gewalt. Man kommt besser dagegen an, wenn man friedlich bleibt.

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Zu Ihrer Strategie gehört auch, Institutionen wie die Kirche oder die Polizei, die Sie »Säulen der Gesellschaft« nennen, auf Ihre Seite zu ziehen. Im Buch beschreiben Sie, wie Sie bereits einzelne Polizist*innen von der Letzten Generation überzeugt haben. Wie aber wollen Sie an die Institution herankommen?

Die Polizei gehört auf jeden Fall zu den schwierigsten Säulen. Aber es gibt die Erfahrung: Es fängt mit einigen an, die überzeugt werden, die sich dann in ihrem Umfeld, mit Kolleg*innen über die Klimakrise unterhalten. So kann das den Schneeballeffekt haben, dass wir das Thema Stück für Stück in die Institution hineintragen. Ein Beispiel aus dem Kulturbereich: Nachdem wir in Museen Kartoffelbrei auf Gemälde geworfen hatten, hat das die Tür geöffnet für sehr viele Gespräche mit Museumsleiter*innen und Künstler*innen, die irgendwann gesagt haben, der Protest ist richtig und wichtig, und die mit uns sogar gemeinsame Ausstellungen gemacht haben. Allerdings werden viele Menschen aus den »Säulen« bedroht, sobald sie sich an unsere Seite stellen und müssen um ihre Positionen bangen. Das ist eine super gefährliche Dynamik, weil sie es den Menschen unmöglich macht, sich bei uns zu engagieren. So hat die Junge Union (JU) über die Plattform X mitgeteilt: »Wir setzen klare Grenzen! Bei aktiver Teilnahme von JU-Mitgliedern an Aktionen von Letzte Generation oder Extinction Rebellion erfolgt sofortiger Ausschluss aus der Jungen Union.«

Der Staat und seine Institutionen sind allerdings etwas anderes als die Kulturbranche. Viele Aktivist*innen glauben nicht an eine Zusammenarbeit mit dem Staat und daran, dass Gespräche etwas bringen.

Da wird die Illusion aufrechterhalten, dass der Staat unangreifbar ist und man als Bürger*in keine Macht hat, etwas zu verändern, außer durch Wahlen. Das ist so konträr zu dem, woran ich glaube: Wir geben dem Staat die Macht, und wir können Dinge ändern. In den Niederlanden ist das ja gerade gelungen: Menschen haben wochenlang eine Autobahn blockiert und zudem viel Kommunikationsarbeit geleistet. Und jetzt muss der Staat seine Subventionen für fossile Brennstoffe prüfen.

Was hat Extinction Rebellion in den Niederlanden denn anders gemacht als die Letzte Generation? Zu Ihnen haben sich bislang ja keine tausend Bürger*innen auf die Straße gesetzt.

Ein Grund könnte sein, dass die Ungerechtigkeit der niederländischen Regierung so sichtbar geworden ist, als aufgedeckt wurde, dass die fossilen Subventionen fast 40 Milliarden Euro pro Jahr betragen. Da war einfach offensichtlich, dass die Regierung lügt. Das ist natürlich auch unsere Aufgabe als Bewegung, vor allem aber die der Medien, öffentlich zu machen, was in Deutschland passiert.

Auch die Zusammenarbeit mit Journalist*innen ist Ihnen wichtig. Berichterstattung wird immer wieder als Erfolg der Letzten Generation gewertet. Dabei ist Berichterstattung ja kein Selbstzweck. Ihre eigentlichen politischen Ziele sind damit trotzdem noch nicht erreicht.

Berichterstattung ist ein zentraler Faktor, der über den Erfolg entscheidet und an dem man Erfolg messen kann. Sie zeigt an, wie bekannt ein Thema in der Bevölkerung ist. Natürlich kann man nicht allein durch Zeitungsartikel die Politik verändern. Aber daraus folgt, dass Menschen anfangen zu reflektieren, was gerade passiert: dass wir auf eine drei Grad heißere Welt zusteuern. Die Menschen fangen vielleicht an, sich zu engagieren. Natürlich ist auch wichtig, wie berichtet wird. Beim Heizungsgesetz wurde ja scheinbar nicht richtig vermittelt, dass ein Heizungstausch die Menschen langfristig weniger Geld kosten wird, sondern nur, dass es sie jetzt erst mal viel Geld kostet. Diese Übersetzungsarbeit funktionierte in dem Fall nicht besonders gut.

Sie schreiben, dass ziviler Widerstand inklusiv sei: Alle können mitmachen. Und in der Letzten Generation sei das unter anderem dadurch sichtbar, dass Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts vertreten seien. Wie ausgewogen sind unterschiedliche Bildungshintergründe und Einkommen vertreten? Vollzeit-Aktivismus kann sich ja nicht jede*r leisten.

Ich meinte damit eigentlich zwei Dinge: erstens, dass ziviler Widerstand zugänglicher ist als gewalttätiger Widerstand. Und zweitens, dass ziviler Widerstand gestärkt wird, wenn sich möglichst viele unterschiedliche Menschen engagieren. Das heißt nicht, dass er für alle gleich zugänglich ist. Auch wir machen uns Gedanken darüber, wie sich zum Beispiel ein alleinerziehendes Elternteil mit wenig Einkommen engagieren kann. Wer kann Babysitten? Wie können wir finanzielle Mittel bereitstellen?

Die Letzte Generation ist nach einer klaren Hierarchie organisiert: Ein Kernteam, in dem auch Sie sind, trifft alle Entscheidungen allein. Wie passt das mit Ihrem politischen Anspruch, dass alle mitbestimmen können und der Forderung nach einem Gesellschaftsrat zusammen?

Wir haben eine funktionelle Hierarchie, um schnell Entscheidungen treffen zu können. Das bedeutet nicht, dass keine anderen Stimmen gehört werden. Wir versuchen, Aufgaben ganz klar zu verteilen. So gibt es zum Beispiel ein Presse- oder ein Vernetzungsteam. Dazu bekommen wir Beratung von Leuten, die sich mit Management auskennen. Im Grunde sind wir organisiert wie ein modernes Start-up.

Was Sie im Buch nur anreißen: die drohende Vereinnahmung Ihrer Taktik von rechts. Sie schreiben, rechter Aktivismus sei eben kein ziviler Widerstand. Das ist ja kein richtiges Gegenargument. Rechte könnten ja trotzdem sagen, sie kleben sich jetzt so lange auf der Straße, bis alle Migrant*innen abgeschoben sind.

Tatsächlich haben rechte Gruppen bereits zivilen Widerstand genutzt, um gegen Geflüchtetenunterkünfte zu demonstrieren. Meistens richten sich diese Proteste gegen Minderheiten und sind nicht mit den moralischen Werten unseres Grundgesetzes vereinbar, was die Proteste im Kern schon schwächt. Deshalb wäre es nicht so einfach, unsere Strategie im großen Stil zu kopieren.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Protestierende oft ein starkes Gefühl des Misserfolgs haben, wenn sich eigentlich der größte Erfolg einstellt. Wie ist aktuell Ihr Gefühl über Erfolg oder Misserfolg?

Auf der einen Seite ist es herausfordernd, dass wir die Proteste jetzt schon so lange machen und die Regierung immer noch keinen Plan zur Klimakrise hat. Aber das wäre die falsche Erwartungshaltung, denn Veränderungen in der Politik sind wirklich erst der allerletzte Schritt. Deshalb bin ich zurzeit eher stolz auf das, was wir mit der Letzten Generation erreicht haben.

Also noch ist das Gefühl des Misserfolgs nicht da. Das heißt, Sie haben noch einiges vor sich.

Genau.

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