Streiks bei Amazon: »Wir haben fast jede Regel gebrochen«

Ein Gespräch über die Streikwelle bei Amazon in Großbritannien und über internationale Solidarität

  • Interview: Felix Sassmannshausen
  • Lesedauer: 6 Min.

Im vergangenen Jahr wurde erstmals in Großbritannien bei Amazon gestreikt. Die Arbeitskämpfe dauern an und werden auch am Black Friday geführt. Darunter in Coventry, wo es bereits eine Reihe von Streiks gab. Wie kam es dazu?

Tom Rigby: Die Frustration unter den Arbeitern und Arbeiterinnen in Großbritannien ist schon lange enorm. Die hohe Inflation raubt vielen die Lebensgrundlage. Aber schon davor hatten sich die Bedingungen für die lohnabhängige Klasse erheblich verschlechtert, auch aufgrund der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Regierung. Deshalb gab es letztes Jahr im ganzen Land große Streiks, zum Beispiel bei den Eisenbahnen. Das hat die Beschäftigten in Coventry geprägt.

Garfield Hylton: Es ist sehr schwer geworden, in Großbritannien über die Runden zu kommen. Wir kämpfen für einen Stundenlohn von 15 Pfund (17,22 Euro). Das ist ein absolutes Minimum. Ich höre bald auf zu arbeiten, meine Hypothek ist zum Glück abbezahlt und meine Kinder sind aus dem Haus. Aber vor allem die Jüngeren leiden sehr. Nur als Beispiel: Ein Kollege hatte einen Schaden an seinem Auto und konnte sich die Reparatur nicht leisten. Er wurde dann beim Diebstahl im Warenlager erwischt. Ich sage nicht, dass ich das gutheiße. Aber wenn der Lohn nicht reicht, um über die Runden kommen, überrascht es mich nicht, dass so etwas passiert.

Rigby: Viele müssen 60 Stunden pro Woche arbeiten, um zu überleben. Außerdem hängt für ausländische Beschäftigte oft ihr Visum vom Job bei Amazon ab.

Das ist in Deutschland auch so. Viele Arbeiter*innen aus Drittstaaten befinden sich dadurch in einer schwierigen Lage ...

Rigby: Ja, sie schuften sich kaputt und kommen trotzdem nicht über die Runden, weil sie auch noch die Visagebühren für sich und ihre Familien zahlen müssen. Die Stimmung im Betrieb war also schon vor dem Streik aufgeladen.

Hylton: Und dann kam diese schäbige Lohnerhöhung von 50 Pence (57 Cent), die bei einem morgendlichen Treffen in der Kantine vor dem gesamten Team angekündigt wurde. Wenn vier Leute die 50 Pence zusammenlegen, können sie sich gerade mal eine Runde Fish and Chips teilen. Mehr ist nicht drin. Also wurden die Manager ausgebuht. Da war eine richtige Wut zu spüren.

Rigby: Ja, sie haben den Leuten im Grunde gesagt, dass sie wertlos sind.

Hylton: Dadurch war von Anfang an eine kämpferische Stimmung da. Die mickrige Lohnerhöhung war der Funke, der das Feuer entfacht hat.

Rigby: Dann ging es schnell. Der Streik wurde vor allem von Kolleginnen und Kollegen aus Eritrea und Rumänien getragen. Vieles lief über informelle Netzwerke. Über ihre Kanäle verbreitete sich die Nachricht rasend schnell.

Welche Rolle spielte die Gewerkschaft dann überhaupt?

Interview

Garfield Hylton (links) und Tom Rigby (rechts) waren dabei, als erstmals in Großbritannien bei Amazon gestreikt wurde. Vor zwei Wochen sind sie nach Berlin gekommen, um über ihre Arbeit zu berichten. Wir haben die Gelegenheit genutzt, um nach ihren Erfahrungen und Strategien zu fragen.

Hylton: Die hat spontan einen Streikposten vor dem Betrieb angemeldet und die Leute geschützt.

Rigby: Es gab bereits eine Reihe von wilden Streiks an anderen Standorten. Die Leute waren bereit, in den Konflikt zu gehen. Wir haben etwas gemacht, von dem mir meine 40-jährige Erfahrung sagte: Du bist vollkommen verrückt. Wir haben fast jede Organizing-Regel gebrochen. Es war eine kleine Gruppe von Leuten in einem riesigen Betrieb und wir haben nicht gewartet, bis die Gewerkschaft offiziell anerkannt war, um den Konflikt auszutragen. Wir haben darauf gesetzt, dass die Beschäftigten ihre Sache selbst in die Hand nehmen und das haben sie getan.

Hylton: Anders hätte es auch nicht funktioniert. Wir hatten ein Gespür dafür, wie die Stimmung im Betrieb ist und mussten danach handeln. Ich habe jahrelang den Kolleginnen und Kollegen im Betrieb zugehört, bevor es zu dem Streik kam. Sie fühlten sich so respektlos behandelt. Man muss sich die Menge an Fehlern vor Augen führen, die das Management gemacht hat. Dadurch ist im Laufe der Zeit Frustration und Wut entstanden, die stärker wirken als jedes Organizing-Konzept.

Rigby: Beim ersten Streik spielte dann ein Kollege eine große Rolle, der der Gewerkschaft zwar nahesteht, aber die Arbeitsniederlegung maßgeblich initiiert hat. Irgendwann rief er eine Kollegin von mir bei GMB an und sagte: »Leute, ich habe die Nachtschicht stillgelegt, was mache ich denn jetzt?« (Lachen) Wir haben gesagt, sie sollen rauskommen zum Streikposten.

Hylton: Anfangs kamen die Leute nur tröpfchenweise aus dem Gebäude. Das Gelände ist riesig, es war nebelig und die Stimmung gespenstisch – aber kämpferisch.

Was ist dann passiert?

Hylton: Ein Manager kam heraus und wollte alle abfilmen und bestrafen. Aber auf Initiative einer Kollegin haben wir ihn weggeschickt. Danach hat Amazon gedroht, den Standort zu schließen, um andere von Streiks abzuhalten. Aber das hat nichts gebracht, wir kämpfen weiter für unsere Forderungen. Die Leute haben ihre Stimme gefunden und wir sind mehr geworden. Das war erst der Anfang.

Sie planen, sich international zu vernetzen. Diesen Freitag kommen Kolleg*innen aus den USA, Italien und Deutschland nach Coventry. Was erhoffen Sie sich davon?

Hylton: Was wir bislang in Coventry erreicht haben, ist gut. Aber es geht nicht nur um Coventry. Es geht um Bristol, Schottland und internationale Standorte. Wir wissen, dass es in Deutschland und Polen Probleme gibt. Es ist wichtig, dass die Leute sehen, dass man etwas tun kann, wenn man zusammensteht.

Rigby: Es gibt eine Initiative aus Polen, bei der die Beschäftigten aufgefordert werden, langsamer zu arbeiten, um die Arbeitsnorm zu senken. Bei Amazon wird die Produktivität durch Algorithmen gemessen. Dadurch ist die Norm kein objektives Ziel. Sie ist relativ und dient dazu, die Leute gegeneinander auszuspielen.

Hylton: Die Beschäftigten werden einem enormen Druck ausgesetzt, schneller zu sein als der Langsamste. Wenn man zu lange im unteren Bereich liegt, wird man gemaßregelt. Dann hat man vier Wochen Zeit, um das zu ändern.

Rigby: Man kann seinen Job verlieren, weil man eine Norm nicht erreicht, von der man nicht einmal wusste, dass sie existiert. Es ist kafkaesk. Wenn wir es schaffen, die gemeinsam zu senken, wäre das gelebte internationale Solidarität. Durch kollektives Verlangsamen könnte man die Arbeitsbedingungen wieder ein Stück weit zurückgewinnen. Das muss jedoch koordiniert stattfinden, damit nicht ein Standort gegen den anderen ausgespielt wird. Entscheidend wird sein, dass die Organisierung bei Amazon international und an der Basis stattfindet und nicht von Gewerkschaftssekretären verwaltet wird. Darauf müssen wir den Fokus legen.

Hylton: Wir wollen und müssen mit anderen zusammenarbeiten. Wenn wir sehen, was die Leute in Polen, Deutschland oder Italien auf die Beine stellen … Das gibt uns Mut, auch standhaft zu bleiben.

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