Massenflucht bei Syriza

Der Niedergang der griechischen Linkspartei setzt sich fort. Immer mehr Funktionäre treten aus

  • John Malamatinas, Thessaloniki
  • Lesedauer: 4 Min.
Schon unter Alexis Tsipras (rechts) fühlten sich viele Mitglieder von Syriza verraten; unter Stefanos Kasselakis (links) nimmt ihre Zahl zu.
Schon unter Alexis Tsipras (rechts) fühlten sich viele Mitglieder von Syriza verraten; unter Stefanos Kasselakis (links) nimmt ihre Zahl zu.

Stefanos Kasselakis konnte seinen fulminanten Sieg bei der Wahl zum Vorsitz der griechischen Linkspartei Syriza am 24. September nicht lange auskosten: Kaum zwei Monate später hat sich die Partei gespalten und liegt in Umfragen nur noch an dritter Stelle hinter der sozialdemokratischen Pasok. Unter den Abgängen befinden sich elf Parlamentsabgeordnete, Dutzende Führungspersonen des Zentralkomitees und mindestens zwei Drittel der Jugendorganisation der Partei.

Die Austrittswelle begann mit Ex-Finanzminister Efklidis Tsakalotos mit seiner als links geltenden Gruppe Omprela (Regenschirm), nachdem Kasselakis vier Parteifunktionäre per Tweet ausgeschlossen hatte. Es folgten zwei Abgeordnete und 46 Mitglieder des Zentralkomitees. Wenige Tage später trat eine noch größeren Gruppe aus: Neun Abgeordnete und weitere Dutzende führende Parteifunktionäre der sogenannten Vierziger Generation um die Ex-Arbeitsministerin Efi Achtsioglou. Einen Tag davor hatten bereits 90 Mitglieder des Menschenrechtsausschusses die Partei verlassen.

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Achtsioglou war in der Stichwahl um den Parteivorsitz gegen Kasselakis klar unterlegen und versucht nun mit den anderen zehn ehemaligen Syriza-Abgeordneten eine eigene Partei zu gründen. Die Seite von Kasselakis bezeichnen Achtsioglou und ihre Mitstreiterinnen als schlechte Verlierer, die sich gegen den Willen der Parteimitglieder stellten. Diese wiederum sehen in Kasselakis einen Beppe Grillo oder gar Donald Trump der griechischen Politik. Dieses toxische Klima lässt sich seit dem Sieg von Kasselakis täglich in den sozialen Medien beobachten.

Bei einer Vorstellung des Buches »Das Phänomen Kasselakis« des Juraprofessors Xenophon Contiades über »das Messianische der Postdemokratie« räumte Kasselakis ein, dass er »in einer gesunden Partei nie Vorsitzender geworden wäre«. Einst galt Syriza als die Hoffnung der parlamentarischen Linken in Europa. Mit ihrem charismatischen Anführer Alexis Tsipras schaffte sie inmitten der griechischen Finanzkrise einen kometenhaften Aufstieg und übernahm sogar die Macht.

Wie für die Linke auf der ganzen Welt ist das Phänomen der Spaltung für Syriza kein Neuland. Nach der Umdeutung des Referendums zur Austeritätspolitik 2015 durch Tsipras von einem unbedingten »Nein« in einer Zustimmung zu den Bedingungen der internationalen Gläubiger verzeichnete die Partei ihre erste Austrittswelle. Ein Teil um den Euro-Kritiker Panagiotis Lafazanis gründete die Partei Laiki Enotita (Volkseinheit), verschwand aber sehr bald in der politischen Bedeutungslosigkeit.

Es folgte die Zementierung der Tsipras-Partei mittels Zentralisierung der Parteistrukturen und der persönlichen Inszenierung auf Parteitagen. Im Vergleich zu den Erfolgen der sozialdemokratischen Pasok um den ebenfalls charismatischen Andreas Papandreou in den 80er und 90er Jahren schaffte es Syriza aber nicht, sich in der Gesellschaft zu verwurzeln. Zwar war der Wahlsieg 2015 Ausdruck eines Volkswillens gegen die herrschende Ordnung der Krisenpolitik, aber die folgenden Jahren bewiesen, dass Syriza seine Versprechen nicht einlösen würde. Papandreou hatte Geld zu verteilen und Tausende in den öffentlichen Dienst einzustellen – etwas, das Syriza verwehrt blieb. Viel eher bereiteten sie den Erfolg der rechtskonservativen Regierung von Nea Dimokratia und Kyriakos Mitsotakis vor, die von der »schmuzigen Arbeit« der Linken die den aktuellen wirtschaftliche Wiederaufschwung einleitete, bis heute profitieren.

Nach Ansicht vieler Parteikader fehlt es seit dem Abgang von Tsipras an Selbstkritik über die Regierungsjahre, vor allem im letzten Wahlkampf, der sich lediglich auf den Teufel namens Mitsotakis, Griechenlands rechten Regierungschef, konzentrierte, statt eigene positive Akzente zu setzen. Viele Wähler wissen nicht, wie eine linke Vision aussehen könnte; da klingt eine Rückkehr zur guten alten Sozialdemokratie à la Pasok oder zu einem Sozialismus der alteingesessenen Kommunisten der KKE logischer.

Der aufstrebende Syriza-Politiker Dionisis Temponeras kritisierte in einem Meinungsartikel in der »Zeitung der Redakteure« die mangelnde Selbstkritik: »Weshalb diskutieren wir nicht über die Gründe dafür, dass Syriza es versäumt hat, mit den ›Massen‹ in Kontakt zu treten?« Temponeras ist Arbeitswissenschaftler und Sohn des linken Lehrers Nikos Temponeras, der während Studierendenprotesten am 8. Januar 1991 von einem Mitglied der Studentenorganisation der Nea Dimokratia ermordet wurde. Im Gegensatz zu Achtsioglou und Tsakalotos hat er sich bisher entschieden, bei der Partei zu bleiben und er gilt als einer der Hoffnungsträger der griechischen Linken. Er sieht in der Entscheidung, die Wahl zum Parteivorsitz vorzuverlegen und nicht auf einen Parteitag zu warten, den Fehler, der zur aktuellen Spaltung führte. Er möchte gerne die Isolierung der Linken so schnell wie mögliche überwinden, denn »die Partei hat bis heute keinen einzigen Gesetzesvorschlag vorgelegt«.

Für viele Linken bleiben die Absichten von Syriza-Chef Kasselakis ein Rätsel – vor allem nach seinen Äußerungen beim sogenannten »Thessaloniki Summit« des Verbands der griechischen Industrie, die als rechts interpretiert werden: »Ich denke, das Neue, das ich mitbringe, ist eine Rückkehr zum alten, ordentlichen Griechenland. Ein Griechenland, in dem der Hausherr sein Haus sauber hielt, die Regeln und Gesetze befolgte und sich um seinen Nachbarn kümmerte und für ihn empfand.« Die Europawahlen im Juni 2024 werden womöglich Klarheit über die Kräfteverhältnisse im linken Lager schaffen.

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