»Sonne, Mond und Kornfeld«: Fiebern und Überleben

Dostojewski in modern: »Sonne, Mond und Kornfeld«, der späte Debütroman des Temur Babluani

  • Frank Willmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Temur Babluani war hierzulande bisher als Filmemacher bekannt, 1993 gewann er auf der Berlinale den Silbernen Bären für seinen Film »Die Sonne der Wachenden«. Darin geht es im weitesten Sinne um Großzügigkeit und Vergebung im Georgien der Sowjetzeit. In der Kulturszene Georgiens ist der seit mehr als 20 Jahren in Paris lebende Drehbuchautor, Regisseur und Schauspieler ein Star. 2018 legte er seinen ersten Roman vor und erhielt den georgischen Saba-Preis für das beste Debüt. Dieser ist in einfühlsamer Übersetzung durch Rachel Gratzfeld nunmehr auch auf Deutsch erhältlich und sehr zu empfehlen.

Tbilissi 1968. Dschude ist 17, Sohn eines Schuhmachers und Trunkenbolds, dem die Frau davongelaufen ist. »Kaum war er mit der Arbeit fertig, leerte er nebenan im Lebensmittelgeschäft zusammen mit den übrigen Säufern eine Flasche Wodka und torkelte dann, Taschen mit sich schleppend, die Treppe zu unserer Wohnung hinauf. In den Taschen befanden sich sein Werkzeug und die Schuhe, die geflickt werden mussten.«

Dschude beendet gerade seine Schule, liebt Manuschaka und hält seinem Freund Chaim die Treue, selbst wenn dieser smarte Junge aus dem jüdischen Viertel sich immer tiefer in kriminelle Abenteuer stürzt. Es geht rau zu in der Stadt; schneller, als man eine Jeanshose von der Wäscheleine klauen kann, sitzt man im Schlamassel. Um Chaim zu schützen, nimmt Dschude zwei Morde auf sich, eine Odyssee durch sowjetische Straflager beginnt.

In rasanter Geschwindigkeit schildert Babluani die folgenden Jahrzehnte, atemlos geschnitten wie ein Thriller – bis zu einem bitter-süßen Ende weit nach dem Zusammenbruch des Ostblocks. Manchmal hält die irrwitzige Schlittenfahrt inne, richtet sich ein Scheinwerfer auf eine abgelegene wie spartanische Kulisse und: Wir sind mittendrin, leiden und fiebern minutiös mit unserem Dschude, träumen von Manuschaka oder einem Loch im Zaun, einem gut vergrabenen Goldschatz oder dem nächsten Schneesturm. Das ist extrem spannend, dunkel und hell, kitschig und dramatisch, es ist ein Knastbuch, ein Totenhausbuch, Dostojewski in modern.

»In dem Lager gab es eine ziemlich gut ausgestattete Bibliothek. Über Ostsibirien hatte ich schon mehr als dreißig Bücher gelesen, mehrheitlich Berichte von Jägern und ehemaligen Lagerinsassen. Diese Memoiren glichen einander sehr. Jermaks Eroberung Sibiriens brachten mich jedoch sehr zum Staunen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es sechshundert Mann gelungen war, ein so riesiges Gebiet einzunehmen. (…) Mir wurde klar, dass mir zusammen mit mehreren Milliarden Wesen wie ich, also Menschen, im Kosmos keine besondere Stellung zukam. Wenn wir verschwänden, würde sich damit nichts ändern.«

Und doch gibt es groteske Schicksalswendungen und überraschende Begegnungen. Es ist ein Buch über die Liebe, über Freundschaft und Wissbegierde. Eine Wissbegierde, die in die Freiheit führen kann, zurück zu Manuschaka und Chaim.

Temur Babluani: Sonne, Mond und Kornfeld. A. d. Georg. v. Rachel Gratzfeld. Voland & Quist, 546 S., geb. 28 €.

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