Einmal Prinzessin sein

Kein Weihnachten ohne »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« und »Dornröschen«

  • Christel Sperlich
  • Lesedauer: 8 Min.

Ruckidigu. Blut ist im Schuh. Der Schuh ist zu klein. Die rechte Braut ist noch daheim.« Kaum ein Mädchen, kaum eine Frau steigt die sagenumwobenen Stufen der königlichen Steintreppe von Schloss Moritzburg hinauf, ohne in den Schuh zu schlüpfen. Blitzschnell sind die Sneaker abgestreift, doch der Fuß passt garantiert nicht in die schmale Öffnung. Er ist aus Bronze geformt und an einer Metallplatte verschraubt. Der legendäre Schuh erinnert an die Schlüsselszene der hier im Winter 1972/73 gedrehten tschechisch-deutschen Filmproduktion »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«. Galina aus Kasachstan, die mit ihrer ganzen Familie aus Süddeutschland angereist ist, schwärmt: »Da werde ich doch gern wieder zum Kind.« Drei Frauen in den Sechzigern laufen auf das Schloss zu und hören auf ihrem Handy den Soundtrack des Märchenfilms von Karel Svoboda. Sie kommen aus Brandenburg, zelebrieren hier ihren »Mädelstag« und pressen auch ihren Fuß in das blinkende Metall. »Leider«, bedauern sie und lachen verschmitzt. »Aber wir sind da auch raus, haben schließlich unsere Prinzen zu Hause.«

Nur knapp 15 Kilometer von Dresden entfernt liegt im Landkreis Meißen die märchenhafte Moritzburg, malerisch umgeben von Teichen und anmutigen Parkanlagen. Das im 16. Jahrhundert erbaute Schloss ließ August der Starke, König in Polen und Kurfürst von Sachsen, zu einem repräsentativen, barocken Jagdschloss umbauen. Prachtvolle Möbel, lederne und mit Seide bestickte Goldtapeten, Gemälde, Jagdtrophäen und Meißner Porzellane in Festsälen und Gemächern zeugen von seiner Leidenschaft für Luxus und Pomp. Im Winter des Jahres 1973 wird das Schloss zum perfekten Drehort für den wohl schönsten Märchenfilm aller Zeiten – der alle Jahre wieder zu Weihnachten auf Bildschirmen in deutschen Wohnstuben flimmert. Auch dieses Jahr wieder drei Mal auf verschiedenen Sendern.

»Wenn die Besucher in die Ausstellung kommen, wollen sie sich in ihre Traumwelt fallen lassen. Sie wissen, es ist eine filmische Illusion, es wird viel gefaked, aber die Gefühle sind echt. Wir versuchen, die Filmatmosphäre nachzustellen, Dekorationsbauten, Requisiten, die Garderobe. Wir berichten von den Drehtagen, auch von Pleiten und Pannen«, erzählt die Kuratorin Margitta Hensel. Sie berichtet, dass damals trotz Temperaturen unter null in und um Moritzburg keine einzige Schneeflocke fiel. Da half nur Kunstschnee aus Fischmehl, und der stank furchtbar. Der Schlossteich war zugefroren. Schlittschuhfahrer sorgten dafür, dass er für die Totalen hell erstrahlte.

Die Kuratorin freut sich über den andauernden enormen Besucheransturm aus ganz Deutschland und anderen Ländern, groß war der vor allem zum 50. Jahrestag der Dreharbeiten Anfang dieses Jahres. Beliebt seien auch die über das ganze Jahr hindurch angebotenen Fragestellungen an die Märchenenthusiasten. Wer bin ich? Welche Rollen im Film entsprechen mir?

Aschenbrödel, die Hauptperson, ist selbstbewusst und emanzipiert. Sie will gesehen und erkannt werden und stellt dem Prinzen nicht umsonst drei Rätsel auf, bevor sie sich auf ihn einlässt. »Die Wangen sind mit Asche beschmutzt, aber der Schornsteinfeger ist es nicht. Ein Hütchen mit Federn, aber ein Jäger ist es nicht. Ein silbergewirktes Kleid mit Schleppe zum Ball, aber eine Prinzessin ist es nicht«, heißt es im Märchen. »Nur wenn der Prinz sie auch als ganzheitliche Person sieht und erkennt, erst dann bekommt er sie«, erläutert Margitta Hensel. »Und nicht einfach so: ›Die kauf ich mir jetzt mal, ich bin schließlich der Prinz.‹ Nein. Hier ist eine grundsätzliche Beziehungskonstellation sehr liebevoll und lustig dargestellt«, sagt die Kuratorin und ergänzt: »Ich denke, jeder trägt ein wenig Aschenbrödel in sich selbst. Das zeigt sich vor allem im Arbeitsleben.« Margitta Hensel lacht. »Man ist ja nicht die Chefin, sondern Untergebene. Und die Arbeit, die gemacht werden muss, gilt es nun mal abzuleisten, im Beruf wie auch in der Familie. Und natürlich wird man manchmal auch nicht gesehen, nicht gewürdigt. Solche Situationen sind sicher jedem schon passiert, auch mir.« Die Kuratorin betont: »Aschenbrödel, dieses unheimlich hübsche Mädchen trägt eine tiefe Seele, eine Liebe in sich, nicht nur für die Tiere, sondern auch für ihre Mitmenschen. Und das spürt man, das geht sehr zu Herzen.«

Berührt werden in der Ausstellung auch das Thema Stiefeltern, die Beziehung zu einem Elternteil, der vielleicht nicht der »richtige« ist. Konflikte, wie sie heute häufig in Patchworkfamilien vorkommen. Wie geht man damit um? »Das kann nur in Form der Liebe geschehen. Ob Elternliebe, Kinderliebe, Partnerliebe.« Gegenseitige Anerkennung sei denn auch das Kernthema der Ausstellung. »Es geht mir am meisten zu Herzen, wenn ich sehe, wie die Schönheit des Märchens auf die Gäste ausstrahlt. Wenn ich in ihre leuchtenden Augen sehe, macht mich das total glücklich. Daraus schöpfe ich auch meine Kraft«, offenbart Margitta Hensel. Zu guter Letzt können die Besucherinnen und Besucher ihre Herzenswünsche auf einen Zettel schreiben. Gesundheit und Liebe stünden im Vordergrund und Kinder wünschen sich oft ein Pferd.

»Dornröschen war ein schönes Kind«, heißt es in einem ebenso berühmten Märchen der Gebrüder Grimm. Gleich am Eingang von Schloss Hartenfels in Torgau steht das schöne Kind, eine lebensgroße Puppe mit schwarzem Haar und ziemlich strengem Blick. Sie lädt ein in die Ausstellung »Das Märchenschloss im Blütentraum«. Der Große Wendelstein von Schloss Hartenfels Wendeltreppe, diente 1971 als Kulisse für den Defa-Film »Dornröschen« in der Regie von Walter Beck. Die freitragende spiralförmige Wendeltreppe, turmmässig der Hauptfassade vorgelagert, gilt als Meisterwerk deutscher Renaissance-Architektur.

In der Ausstellung werden noch zwei weitere von der Defa produzierte Dornröschen-Verfilmungen vorgestellt: Zeichentrick-Animationen, deren Originalpuppen hier in Schlüsselszenen zu sehen sind. Dazu gehört natürlich das Fest mit den zwölf Feen und die Verwandlung der Prinzessin durch die böse, ungeladene dreizehnte Fee. Ausgehend von dem Klassiker werden in einem interaktiven Bilderbuch die Grundmotive und kulturgeschichtlichen Hintergründe des Märchens von der »Schlafenden Schönen« vorgestellt, wie sie in verschiedenen Ländern Europas gesammelt und erzählt wurden. Erklärt wird die historische Bedeutung des Flachses und des Spinnens. Wer kennt das Handwerk nicht aus eigener Anschauung? Kaum einer. Und was hat es mit den Disteln auf sich, worin besteht die Faszination der Rosen und wie kleidete man sich einst am Hofe?

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Magnet in der Ausstellung ist eine Fotostation. Hier können alle, ob Kinder oder Erwachsene, in die Rolle von Märchenfiguren schlüpfen. An einer Garderobenstange hängen zahlreiche königliche Gewänder aus Brokat, Samt und Seide, opulente Umhänge, reicher Kopfschmuck aus Federn und goldfarbene Kronen. Die achtjährige Lina benötigt Hilfe beim Verschließen des Reissverschlusses am Rücken ihres Kleides; sie streift sich weiße Samthandschuhe bis zu den Ellenbogen hoch, rutscht in die Absatzschuhe und setzt sich einen Hut mit langen Federn auf. Sie betrachtet sich im Spiegel, nimmt dann den Hut ab und ersetzt ihn durch eine Krone. Jetzt ist sie zufrieden. Stolz setzt sie sich auf das rote, majestätische Samtsofa und strahlt anmutig.

Die Torgauer Dornröschen-Ausstellung dokumentiert und diskutiert literarische Varianten des Märchens sowie filmische Adaptionen im 20. und 21. Jahrhundert beleuchtet gesellschaftliche Verhältnisse und Geschlechterrollen. Wird Aschenbrödel in ihrer Partnerwahl Selbstbewusstsein und Souveränität nachgesagt, kommt Dornröschen hierbei nicht gut weg. Die Museumspädagogin Stefanie Molnar hält dagegen: »Es ist die Erzählung eines jungen Mädchens, das sich nicht an gesellschaftliche Konventionen hält. Mit 15 Jahren, einem Alter, in dem früher Mädchen schon verlobt wurden, geht sie allein, ohne ihre Zofe auf Abenteuersuche, spaziert im ganzen Schloß herum, steigt einen alten Turm hinauf, wo sie eigentlich nichts zu suchen hat«, begründet die Torgauer Wissenschaftlerin. »Sie wird daraufhin von der Spindel gestochen, verliert ihre körperliche Unversehrtheit. Ein Blutstropfen tritt hervor, was auch als Entjungferung interpretiert werden könnte. Daraufhin wird sie aus der Gesellschaft verbannt, im Märchen durch den hundertjährigen Schlaf.« Die ganze Familie, der ganze Hofsstaat ist davon betroffen. Es wuchert eine riesige Dornenhecke, hinter der die »Schande« verborgen werden soll, bis sich keiner mehr daran erinnern kann, was eigentlich passiert ist.

Zahlreiche Prinzen, die zu der Schönheit durchdringen wollten, blieben jämmerlich in den Dornen hängen, fanden einen tragischen Tod. »Erst nach hundert Jahren kommt einer, dem öffnet sie sich«, erzählt Stefanie Molnar. »Aber der tut eigentlich gar nichts dafür. Er ist einfach nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Er zieht nicht einmal sein Schwert. Er tritt auf die Dornenhecke zu und sie öffnet sich. Der Prinz küsst die Prinzessin im Schlaf und sie erwacht.« Happy End mit einem Aber: »Er bittet Dornröschen nicht um Erlaubnis. Sie selbst hat gar kein Mitspracherecht. Sie hat ihn vorher noch nicht einmal gesehen. Heutzutage ist das ein sexueller Übergriff, undenkbar, dass dies heute geschehen dürfte.« Allerdings, so gibt die Feministin zu bedenken: »Für die damals gesellschaftlich geächtete junge Frau war es die einzige Chance, einen jungen Mann zu finden, der sie trotzdem mit auf sein Schloss nimmt. Alle freuen sich nun, dass die Geschichte noch ein gutes Ende genommen hat.«

Dornröschen-Ausstellung auf Schloss Hartenfels, Schlossstr. 27, 04860 Torgau, Di. bis So. 10 bis 18 Uhr, 5 €, erm. 4 €; Aschenbrödel-Ausstellung in der Moritzburg, Schlossallee, 01468 Moritzburg, Mo. bis So. 10 bis 18 Uhr, 12 €, erm. 10 €, bis 16 Jahre 4 €.

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