Die Bilder wissen mehr, als sie zeigen

So hat man die DDR noch nicht gesehen:die märchenhafte Graphic Novel »Genossin Kuckuck« von Anke Feuchtenberger

  • Samuel Logan
  • Lesedauer: 5 Min.
Situationen und Gefühle können sehr schnell kippen.
Situationen und Gefühle können sehr schnell kippen.

Ein Kuckucksei wird von Vögeln ausgebrütet, die nicht die Eltern des Kükens sind. Wer ist der Vater? Weiß der Kuckuck! In dieser Redensart ersetzt der Kuckuck das Wort »Teufel«, und der Teufel ist die Personifikation des Bösen, zum Kuckuck noch mal. In Wolkenkuckucksheim werden schon seit Aristophanes Träume wahr, und Verrückte sind auf Englisch »cuckoo«. Der Kuckuck und der Esel, die hatten einen Streit – von bornierten Menschen verachtet werden beide. »Kuckuck« ist ein beliebtes Kinderspiel, das seinen Reiz aus dem Verschwinden und dem plötzlichen Auftauchen wie aus dem Nichts zieht.

So wenig kohärent diese Einleitung scheinen mag, so kommt sie doch der Graphic Novel »Genossin Kuckuck« von Anke Feuchtenberger relativ nahe. Denn eher noch als ein grafischer Roman ist dieser Comic ein grafisches Gedicht oder ein grafisches Märchen, das mehr einer bildlich-assoziativen und emotionalen Logik folgt als einer narrativen. Nicht, dass es diese nicht gäbe, doch erschließt sie sich erst Stück für Stück, und auch nicht vollständig.

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Der Orientierung halber sei sie hier ansatzweise rekonstruiert, auch wenn sich das ein wenig so anfühlt, wie wenn man einen Stein hochhebt, woraufhin sich die vielen Tierchen, die darunter leben, verflüchtigen: Am Ende des Zweiten Weltkrieges werden im ostdeutschen Dorf Pritschianow Frauen von sowjetischen Soldaten vergewaltigt. Die beiden mutmaßlich wenig später geborenen vaterlosen Mädchen Kerstin und Effi wachsen in der DDR auf – zunächst in der Wochenkrippe, dann bei der Mutter (Effi) beziehungsweise Großmutter (Kerstin). Im Laufe der Zeit entfremden sie sich voneinander, und am Ende kehrt die fortgezogene Kerstin, die die Beerdigung ihrer Großmutter verpasst hat, ins Dorf zurück.

Diese Synopse erzeugt aber ein vollkommen falsches Bild des Buches. Denn »Genossin Kuckuck« reiht sich weder inhaltlich noch formal ein in den wehleidigen deutschen Opferdiskurs über die Unterdrückung in »zwei Diktaturen«. Zumeist erfolgt die künstlerische Auseinandersetzung mit der DDR ja entweder im Stil des antisozialistischen Realismus oder als postmodernes Kostümdrama, bei dem die popkulturelle Faszination für Design und Produkte der DDR eine gewichtige Rolle spielt (»Good Bye Lenin« oder »Kleo«). Aber egal, ob plattenbaugrau oder quietschebunt: zu sehen bekommt man nur die urbane DDR, und meist erfolgt ein manchmal verständnisvoller, aber öfter ein anklagender Abgleich von Versprechen und Wirklichkeit des Arbeiter- und Bauernstaates, dessen Bauern man aber nie zu sehen bekommt.

Ganz anders ist »Genossin Kuckuck«: gezeigt werden Feld, Wald und Wiesen. Bukolisch könnte man das nennen, wobei dieser Begriff nicht mit »idyllisch« verwechselt werden darf. Näher am Klischee vom lustigen Landleben ist Feuchtenbergers Graphic Novel an archaischen Mythen und dem Surrealismus. Über weite Teile nimmt »Genossin Kuckuck« die Kinderperspektive ein, und Kinder nehmen ihre Umwelt zwar sehr genau wahr, können sie aber nicht vollständig begreifen, weshalb sie nicht selten bedrohlich wirkt. Situationen und Gefühle können sehr schnell kippen, wie in Schauermärchen, die auf niemanden so intensiv wirken wie auf Kinder. Diese Qualität wohnt vor allem den Bildern inne, die das Buch entscheidend prägen, da Text eher spärlich eingesetzt wird: Gezeichnet sind sie meist in einem Stil, der zunächst kindlich-naiv wirken mag, aber zugleich sind sie so detailliert und düster, dass das Wort »naiv« unpassend scheint. Diese Bilder wissen mehr, als sie zeigen. Eine doppelbödige Naivität prägt auch die Gemälde Henri Rousseaus, ist dort aber eher freundlich-harmlos im Vergleich zu Feuchtenbergers lyrisch-onirischer Schwarzmalerei.

Bevölkert werden Feuchtenbergers düstere Bilder von Figuren aus Volksliedern und der Märchenwelt: dem Kind im Wald, der Großmutter, dem Jäger mit dem Schießgewehr (auch wenn er hier den Titel »Waidgenosse« führt), dem Fuchs und der Gans. Und sind die Menschen überhaupt Menschen? Oft haben sie Hunde- oder Schweineköpfe, während man menschliche Gesichter dort erkennen kann, wo sie nicht sind, etwa auf dem Hinterteil einer Hündin oder dem Rücken einer Spinne. Wie im Schauerwald blicken einen diese Gesichter an, und nicht nur die, sondern auch Genitalien, oder Dinge, die so aussehen. Omnipräsent, auch als Protagonistinnen, sind zum Beispiel die vulvaförmigen Schnecken. Aber auch in Pilzen, die an Bäumen oder den Ecken von Räumen wuchern, erkennt man die weibliche Form.

Eine unheimliche, unterschwellige Sexualität durchzieht das Buch: »Alles ist verkehrt herum. Bleiche Wurzeln ragen aus dem Wasser. Und in der Mulde, zwischen den blassen Beinen ist es seidig faltig und lila schillernd. Altes Narbengewebe. Tropfen perlen herab. Jochen verliert den Boden unter den Füssen beim Wegrennen. Der Wald ist umgekippt und schwimmt weiterhin auf ihn zu.« Über weite Strecken zeigt »Genossin Kuckuck« die Verbindungen, die das Unterbewusstsein im Oberstübchen zwischen Unterholz und Unterleib herstellt: »Würzig duftend liegt die untote Buche. Den Bauch mit Sporenmehl bestäubt. Auch aus der Eiche sprießt es jungfräulich«. Eindeutig zweideutig sind die entsprechenden Bilder.

Schnecken und Pilze sind aber nicht nur in grafischer Hinsicht wichtig als Symbole: wie die Sexualität zur Zeit der Handlung (60er Jahre) leben sie verdeckt und im Dunklen. Das Trauma der Vergewaltigung durch sowjetische Soldaten wird verdrängt, aus politischen Gründen ist es brisant. Analog zum Hermaphroditismus der Schnecken ist in »Genossin Kuckuck« Mutterschaft von der Existenz eines Vaters entkoppelt. Womit wir wieder beim Kuckuckskind wären.

Neben Form und Inhalt ist aber auch die Erscheinungsform von »Genossin Kuckuck« bemerkenswert. Passend zu diesem bildgewaltigen Werk mit seinen Bildern voller latenter Gewalt ist die gewaltige Aufmachung: Goldene Linien glänzen verheißungsvoll auf dem schwarzen Einband, die Seiten haben einen Goldschnitt. An der Qualität des Papiers wurde auch nicht gespart, und so bringt der Band 1,33 Kilo auf die Küchenwaage. Damit befindet er sich schon in der Gewichtsklasse der Bildbände, und als Coffee-Table-Book kann »Genossin Kuckuck« auch nach dem ersten Lesen noch oft zur Hand genommen werden. Dann erfreut man sich am fantastischen Lettering mit seinen Lambda-Schleifen als »L«, seinem Alpha-artigen »A« und seinem Kringel- »G« oder etwa an der wunderschönen Zeichnung einer Amsel, die einen neugierig und traurig anblickt, oder an pointierten Miniaturen wie dieser: »Rosi wird an etwas erinnert. Sie kriegt es nicht zu fassen. Es liegt zu nahe.« Unfassbar traurig ist das, und unfassbar schön.

Anke Feuchtenberger: Genossin Kuckuck. Reprodukt, 448 S., geb., 44 €. Erhältlich auch als limitierte Sonderauflage mit Siebdruck für 150 €.

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