Engagiert für jüdische Kultur

Nora Pester über ihren Verlag, virulenten Anti­semitismus und wachsende Ängste von Jüdinnen und Juden seit dem Anschlag in Halle

  • Interview: Anita Wünschmann
  • Lesedauer: 6 Min.
Antisemitismus: Engagiert für jüdische Kultur

Frau Dr. Pester, ist Ihr Verlag Hentrich&Hentrich ein Nischenverlag?

So würde ich es nicht nennen, sondern eher den englischen Ausdruck »special interest« nehmen. Wir wollen keine Nische sein, wenn wir das Jüdische in der Gesamtgesellschaft und über große Zeiträume hin abbilden möchten. Mit unserem Programmprofil sind wir allerdings einzigartig in Deutschland. Es gibt andere Verlage, die großartige Bücher in diesem Spektrum machen, aber mit über fünfzig Neuerscheinungen pro Jahr haben wir ein Alleinstellungsmerkmal.

Welche Bereiche gehören zum Programm?

Wir sind breit aufgestellt von jüdischen Sachbüchern über Biografien, Erzählungen, Kinderbücher, Ausstellungskataloge bis zur Kulinarik.

Als Sie den Verlag übernommen hatten, war jüdisches Leben wieder recht etabliert in Deutschland. Wie haben Sie die Zeit seither wahrgenommen?

Es hat sich unglaublich viel verändert. Ich war 2010 etwas naiv. Ich dachte, das neue jüdische Leben in Deutschland, das sehr stark durch die Flüchtlinge aus dem postsowjetischen Raum geprägt war, hätte nach der Zäsur der Shoah nun ein stabiles Selbstverständnis gefunden. Dann wurde aber seit 2018/19 der Antisemitismus wieder virulent. Er hat so vieles hochgespült, das vorher unmöglich schien oder nicht sichtbar war.

Interview

Nora Pester wurde 1977 in Leipzig geboren. Sie ist seit 2010 Inhaberin des Verlags Hentrich & Hentrich für jüdische Kultur und Zeitgeschichte in Berlin und Leipzig, der 2022 mit dem Sächsischen Verlagspreis und 2023 mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichnet wurde. Seit 2019 ist Pester Vorstand des Netzwerks Jüdisches Leben e. V. sowie Mitglied im Sächsischen Kultursenat. 2022 erschien ihr Buch »Jüdisches Leipzig«.

Sie meinen den Anschlag in Halle als öffentlich sichtbares Zeichen?

Ja, ganz klar! Der Anschlag in Halle war am 9. Oktober 2019, dem Jom-Kippur-Feiertag, und jetzt hat sich alles seit dem Pogrom der Hamas am 7. Oktober in Israel noch einmal vehement verschlimmert.

Inwiefern betrifft Sie das – sowohl den Verlag als auch Sie als private Person?

Die erste Zäsur hat die vermeintliche Ruhe in diesem mitteldeutschen Raum Halle-Leipzig aufgestört. Als wir mit dem Verlag von Berlin nach Leipzig gezogen waren, fiel uns auf, dass es nirgends Sicherheitspersonal vor den Gemeinden gab, alles wirkte ganz entspannt und offen. Das war schön, aber eben ein Trugschluss. Der Anschlag in Halle löste einen Wahrnehmungseinbruch bei uns aus.

Die Frage nach der Angst wird Juden in Deutschland seit dem 7. Oktober wieder gestellt. Zielt sie auf ein reales Gefühl, oder ist sie eher symbolisch zu verstehen?

Das kann ich nicht pauschal beantworten. Dieses Angstgefühl erscheint mir stark generationenabhängig. Bei den Jungen bis etwa 30 rufen die Antisemitismen eher Widerstand hervor im Sinne der Selbstermächtigung. Sie sind Mitglieder der Gesellschaft, egal ob links, konservativ oder was auch immer. Sie sagen: »Ich gehöre hierher. Punkt!« Eher sind es die über Siebzigjährigen, die sich um ihre Kinder oder Enkel sorgen. Vor allem jene, die sich zeitlebens für Dialog, Aufklärung, Verständigung und Versöhnung eingesetzt hatten, fragen sich ganz rational, was hat es gebracht? 2019 war erstmals die Frage zu hören, kann man hier als Jude oder Jüdin bleiben oder packt man doch lieber – real oder metaphorisch – den Koffer, den die Eltern und Großeltern immer parat hatten.

Sie sind selbst keine Jüdin, stehen aber mittendrin im kulturellen jüdischen Leben. Haben Sie je daran gedacht, einen Schritt zurückzutreten?

Das ist eine wichtige Frage, die wir uns in den letzten Wochen im Verlag gestellt haben, weil wir mit den Biografien und den Alltagsgeschichten aus der Gegenwart wie ein Sprachrohr wirken. Aber niemand im Team hat gesagt: »Das ist mir jetzt zu heikel.« Für uns ist unsere Tätigkeit alternativlos. Auch wenn es nicht unsere angeborene Identität ist, bewegen wir uns real oder gedanklich in diesen kulturellen Räumen, jüdische Autoren sind unsere Freunde oder Bekannte. Es ist unser Leben. Das kann man nicht einfach ablegen.

Inwiefern sind Sie mit der Frage der »kulturellen Aneignung« schon tangiert worden?

Ich bin schon gefragt worden, aber es gibt für mich kein Problem, weil ich meine Rolle klar thematisiert und öffentlich gemacht habe. Ich habe immer gesagt, wir sind ein Medienunternehmen und ich bin die Managerin. Wir nennen uns explizit »Verlag für jüdische Kultur und Zeitgeschichte« und nicht »Jüdischer Verlag«. Das ist ein Unterschied.

Was hatte Sie als Politikwissenschaftlerin motiviert, ins Verlagsleben einzusteigen?

Das erste Mal hatte ich schon als Studentin für einen Verlag gearbeitet. Das war der Forum Verlag in Leipzig, der sich ganz speziell mit Politik und Zeitgeschichte befasst hatte. Ich wollte aus dem Verlagswesen wieder raus, aber irgendwie hat es mich festgehalten. Und nun handle ich mit Geschichten und Themen. Das passt, und es ist für mich das Wunderbare. Eine Literaturverlegerin wäre ich nicht. Ich möchte Geschichte in Biografien sichtbar machen und zeithistorische Zusammenhänge erklären.

Und wie kamen Sie zum Verlag Hentrich & Hentrich?

Ich habe mich nicht darum gerissen, ich bin gefragt worden, ob ich diesen bereits in den Achtzigern gegründeten Verlag übernehmen wollte. Ich war recht skeptisch, aber es gab niemand anderen. Ich war nicht die »beste Lösung«, sondern die einzige. Mir war klar, wenn ich das übernehme, baue ich es auch aus, und da hatte ich wirklich tolle Unterstützung durch Hermann Simon, ehemals Direktor des Centrum Judaicum, Andreas Nachama, den früheren Leiter der »Topografie des Terrors«, durch die Rabbinerin Elisa Klapheck und viele andere. Also Juden und Jüdinnen haben mich darin bestärkt, diese Arbeit zu machen. Es war dabei klar, dass sie diejenigen sein werden, die ihre Stimmen und Perspektiven einbringen.

Und die Leserschaft?

Mit der Entscheidung 2017/18, auch Bücher zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen, zu Israel, zum Antisemitismus herauszugeben, die durchaus brisant sind und debattiert werden, haben wir ganz klar junge Leser dazugewonnen, wogegen die Älteren sich eher den historisch-biografischen Ausgaben zuwenden.

Sie sind in Leipzig mit dem Verlag nach einer Interimssituation im Haus des Buches jetzt im Capa-Haus ansässig. Was ist anders als in Berlin?

Man geht hier sehr entspannt mit uns um, sehr offen und interessiert. Produktiv sind auch die kurzen Wege. Dabei werden wir nicht nur als Verlag, sondern als eine Kulturinstitution wahrgenommen, von der die Stadt etwas für die Gesellschaft erwartet.

Sie haben selbst ein Buch, das »Jüdische Leipzig«, mit 60Biografien gemacht. Wer war Ihnen als Protagonist*in zuerst eingefallen?

Es war Gerda Taro, die Lebensgefährtin des Fotografen Robert Capa. Wir waren zu der Zeit noch nicht im Capa-Haus. Auch wenn sie mit ihrer Familie nur vier Jahre in Leipzig gelebt hatte, war es politisch ihre prägendste Zeit. Sie kam als 19-Jährige, quasi noch Teenagerin, aus Stuttgart und schloss sich in Leipzig kommunistischen Kreisen im Widerstand gegen das NS-Regime an.

Was hat Sie in all den Jahren positiv geprägt?

Es waren die Begegnungen mit den verschiedenen Menschen und die wunderbaren Feste, zu denen ich oft eingeladen war.

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