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Basketball in Chemnitz: Viel mehr als nur Tabellenführer

Ob Fans oder Sponsoren: Bei den Niners versammeln sich jene Chemnitzer, die sich eine weltoffenere Heimatstadt wünschen

  • Ullrich Krömer, Chemnitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Kevin Yebo (M.) hat sich in Chemnitz zum besten deutschen Punktesammler der Bundesliga entwickelt.
Kevin Yebo (M.) hat sich in Chemnitz zum besten deutschen Punktesammler der Bundesliga entwickelt.

»Feel Good Club« heißt das Trainingszentrum von Basketball-Bundesligist Niners Chemnitz. Der Name ist Programm, denn viel wohler könnten sich die hiesigen Korbjäger in dieser Saison kaum fühlen. In der Bundesliga ist das Team der Überraschungsklub schlechthin. Mit 14:3-Siegen führen die Sachsen die Tabelle vor den Branchenriesen Bayern München, Meister Ulm und Alba Berlin an. Und im Europe Cup haben die Chemnitzer bereits vorzeitig das Viertelfinale erreicht und träumen vom ersten großen Titel der Vereinsgeschichte. Zweifellos eine ostdeutsche Erfolgsgeschichte, die ganz ohne großen Geldgeber geschrieben wurde. Welches sind also die Erfolgsfaktoren für den rasanten Aufschwung des 1999 gegründeten Vereins, der erst seit dreieinhalb Jahren in der Bundesliga spielt?

Wer das Herz des Chemnitzer Basketballs sucht, findet dieses an zwei Orten in der sächsischen 250 000-Einwohner-Stadt: In der Trainingshalle und in der Geschäftsstelle der Niners. Trainer Rodrigo Pastore verlässt gerade den modernen und weitläufigen Trainingscourt im »Feel Good Club« und setzt sich in den Loungebereich davor. Ein privater Betreiber hatte die frühere Tennishalle vor drei Jahren nach den Wünschen der Niners komplett umgebaut und modernisiert. Statt wie einst in einer Schulturnhalle trainiert der Bundesligist nun in einer riesigen Ballsporthalle, die ihm rund um die Uhr komplett zur Verfügung steht. Einer der Erfolgsfaktoren, betont der Argentinier Pastore. Doch der wohl größte Erfolgsgarant ist der 51-Jährige selbst. Seit er 2015, als der Klub fast in die Drittklassigkeit abgestiegen war, in Chemnitz begann, geht es mit dem Basketball in der Arbeiterstadt am Rande des Erzgebirges bergauf.

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Zu Pastores größten Verdiensten gehört es, hier überhaupt das Potenzial erkannt zu haben, die Stadt zu einem Basketball-Standort zu formen. Den Aufstieg seither vergleicht er mit der Besteigung des Mount Everest. »Wenn Sie auf den Gipfel wollen, müssen Sie den Berg Camp für Camp bezwingen«, sagt Pastore. »Wir sind jetzt in der Höhe, in der wir eine Sauerstoffmaske brauchen, weil wir es schon auf ein sehr, sehr hohes Level geschafft haben.«

Dem einstigen Bundesligaprofi ist es wichtig zu erklären, dass der aktuelle Lauf nicht durch einen Zufall zu erklären ist. »Unser Erfolg kommt von all der Arbeit, die wir hinter den Kulissen leisten, und der Entwicklung der Spieler, die wir rekrutieren«, betont er. Pastore hat in Chemnitz eine Arbeitsattitüde eingeführt, die sie die »Niners-Identität« nennen. »Diese Arbeitskultur und -mentalität ist kein Marketing, es geht darum, es tatsächlich umzusetzen«, erklärt der schlanke Mann aus Buenos Aires. »Diesen Jungs hat keiner den roten Teppich ausgerollt, sie mussten den steinigen Weg gehen«, so Pastore. Er spreche viel darüber, jeden einzelnen Tag zu gewinnen, die Energie einzubringen, der Beste zu sein, der man an diesem Tag sein kann. Einer der Hauptgründe, warum Basketballer nach Chemnitz kommen, sei, »die beste Version ihrer selbst zu werden«.

So war das auch bei Kevin Yebo, der als einer der letzten Spieler vom Training in die Umkleide trabt. Der 2,07-Meter-Mann wuchs in schwierigen Verhältnissen in einem Kinderheim auf, begann erst als 16-Jähriger mit dem Basketball, wurde schnell erfolgreich, erwarb sich aber auch den Ruf, unprofessionell zu sein und sein Talent nicht auszureizen. Der Wechsel nach Chemnitz im Jahr 2022 war seine vielleicht letzte Chance in der Bundesliga. »Bevor ich hierherkam, habe ich mir bewusst vorgenommen, alles umzusetzen, was von mir erwartet wird. Ich bin megafroh, dass ich das schaffe und sich das Vertrauen auszahlt«, sagt er heute.

Bei bis zu 50 Grad in der Halle schuftete Yebo im Sommertraining und legte den Grundstein dafür, dass er aktuell mit 16,2 Punkten pro Spiel der beste deutsche Scorer der gesamten Liga ist. »Ich habe in diesem Jahr erst so richtig verstanden, was es heißt, Profibasketballer zu sein«, sagt der 27-Jährige.

Trainer Pastore ist dabei stete Antriebsquelle. »Er kann manchmal sehr hart sein«, sagt Yebo über den Argentinier. »Aber ihm ist es wichtig, uns etwas mitzugeben. Das ist eine ehrliche Härte. Man ist nie sauer, wenn er dich anschreit. Man weiß, dass er etwas in dir sieht und es aus dir herauskitzeln will. Wenn man ihm das Vertrauen schenkt, wird man belohnt.«

Der athletische und bewegliche Hüne Yebo, der in seiner Freizeit gern afrikanische Motive auf Leinwand malt, hat ein schönes sprachliches Bild für den Aufschwung in Chemnitz entworfen: »Das ist kein Höhenflug«, schildert er, »wir fliegen nicht. Denn wer fliegt, kann auch tief fallen. Stattdessen sind unsere Füße fest auf dem Boden. Wir wachsen nur.« Chemnitzer Riesen also, die überraschend schnell an Größe zugelegt haben.

Nach den ersten beiden aufeinanderfolgenden Niederlagen in dieser Saison gegen den FC Bayern in der Bundesliga und Varese im Europapokal muss sich nun zeigen, ob das Team tatsächlich stabil genug ist, auch Rückschläge zu verkraften. »Unser nächster großer Schritt ist es, ein Gewinnerteam in der Bundesliga zu werden«, umreißt Pastore die Herausforderung.

Auf die Fans ist jedenfalls Verlass. Die meisten Spiele in der Messehalle sind mit 4800 oft euphorischen Zuschauern ausverkauft. Kapitän Jonas Richter spielt hier, seit er sechs Jahre alt ist, und hatte damit kaum gerechnet. »Es macht mich unglaublich stolz, dass wir diese Entwicklung in meiner Heimatstadt geschafft haben«, sagt der 26-Jährige. »Das ist ein Aushängeschild für Chemnitz und die Region. Der Erfolg reißt immer mehr Leute mit.« Auch Trainer Pastore meint, dass Chemnitz eine Basketball-Stadt geworden sei, denn die Stadt fühle sich mit dem Verein verbunden.

Das ist auch Verdienst von Manager Steffen Herhold. Er spielte in den 90er Jahren selbst Basketball, mochte Hip-Hop und fieberte mit dem damaligen Regionalligisten mit. »Basketball hat hier Street-Credibility, es gab immer Schnittstellen zur Jugendkultur«, sagt er. Wie so viele seiner Generation ging er zum Studieren und Arbeiten aber nach Westdeutschland und verdiente gutes Geld als Unternehmensberater in Frankfurt am Main und München. 2016 kehrte er dennoch zurück in seine Heimatstadt. Nachdem sich um 2015 herum Pegida und andere rechte Gruppierungen formiert hatten und Herhold die Reportagen über den Osten las, fragte er sich in München: »Was mache ich eigentlich hier?«

Als die Anfrage der Niners kam, verzichtete er auf 75 Prozent seines Einkommens, um der Abwanderung kluger Köpfe aus dem Osten etwas entgegenzustellen. Er wollte in seiner Heimatstadt etwas bewegen, etwas verändern. Nicht nur sportlich, auch politisch, wirtschaftlich und sozial. Wenn Herhold erzählt, klingt er manchmal eher wie ein Stadtentwickler oder Bürgermeister, nicht wie der Geschäftsführer eines Sportvereins. Der Mittvierziger hat nicht nur seinen Verein, sondern die gesamte Region im Blick.

Diese Mischung aus Herzblut, Mut und finanziellem Know-how in Verbindung mit Pastores sportlichem Können und Ehrgeiz zündete. Den Etat von etwa 800 000 Euro steigerten Herhold & Co. auf mittlerweile sechs Millionen. 210 Sponsoren hat der Klub versammelt. Darüber entstand auch ein soziales Netzwerk, das gemeinsam an der Vision eines attraktiven, weltoffenen Chemnitz arbeitet. Erst recht seit den rechten Krawallen und Protesten 2018. Wenn man so will, hat die Stadtgesellschaft beim Basketball in der Messehalle einen neuen identitätsstiftenden gemeinsamen Nenner gefunden.

»Wir sind viele«, sagt Herhold, was wie ein Echo jener Sprechchöre von all den Demonstrationen gegen rechts klingt, die zuletzt im ganzen Land veranstaltet wurden. Auch in Chemnitz waren es am Sonntag gut 12 000. Die Niners hatten sich am Aufruf zur Demo über ihre sozialen Kanäle beteiligt. »Wir sind wie ein Ameisenhaufen. Nur so haben wir eine Chance.«

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