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Patientensicherheit: Frühwarnsystem statt Meckerecke
Neues Meldesystem für Patientensicherheit startet als Pilotprojekt
Kaum bemerkt von den Patienten gibt es vor allem in Krankenhäusern hierzulande bestimmte Lern- und Berichtssysteme, mit denen kritische Ereignisse in der Versorgung erfasst und ausgewertet werden. Die international geläufige Abkürzung Cirs steht für Critical Incident Reporting System, dessen Prinzip aus der Luftfahrt übernommen wurde. Jetzt hat der Verband der Ersatzkrankenkassen (VDEK) ein solches System von besonderer Art gestartet: Hierbei sollen Patientinnen und Patienten ihre Erfahrungen einbringen, und zwar sowohl aus Arztpraxen und Kliniken wie auch aus Pflegeheimen. Selbst wenn es seitens einer Krankenkasse Versäumnisse in Sachen Patientensicherheit gab, wären diese hier meldefähig.
Seit Donnerstag ist das neue Portal unter https://mehr-patientensicherheit.de erreichbar. Es wurde von VDEK-Vorstandschefin Ulrike Elsner vorgestellt. Der Verband, zu dem Kassen wie die Techniker und die Barmer gehören, hatte die Plattform entwickeln lassen. Sie kann von Versicherten aller Kassen genutzt werden und läuft als Pilotprojekt zunächst bis Ende 2025. Wichtig ist diese Art Rückmeldung laut Elsner, weil die Versicherten oft die einzigen seien, die den Behandlungsprozess von Anfang bis Ende erleben. »Ihr Wissen kann uns einen großen Schritt weiterbringen, vermeidbare Fehler zu erkennen und die Versorgung so zu entwickeln, dass sie nicht mehr passieren«, erklärt die Kassenverbandschefin.
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Patienten oder auch ihre Angehörige können ihre Erfahrungen im Gesundheitswesen auf der Webseite strukturiert schildern. Als nächstes wird der Bericht verpflichtend von zwei Experten anonymisiert, es gilt also ein Vier-Augen-Prinzip. Diese Fachleute, darunter Ärzte, eine Hebamme, Pflegekräfte und eine Gesundheitswissenschaftlerin, gehören zum Kernteam der mit der Realisierung beauftragten Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit gGmbH (DGPS). Das Unternehmen entwickelt und betreut schon länger Cirs-Systeme für Profis. Deren Befunde fließen üblicherweise zurück zu Abteilungen wie dem Qualitätsmanagement von Krankenhäusern. DGPS-Geschäftsführer Marcus Rall freut sich jedoch über eine ganz neue Art von Input bei dem neu gestarteten System.
Für einen Bericht geeignet wären etwa Verwechslungen von Medikamenten, falsch gedeutete Symptome oder das Hinterlassen von OP-Material im Körper des Patienten. Aber es muss noch nicht unbedingt ein Schaden eingetreten sein, wie Mediziner Rall erläutert: »Aus kritischen Ereignissen kann auch gelernt werden, wenn es noch einmal gut gegangen ist.« Eingesandt werden können durchaus auch positive Erfahrungen, auch daraus lässt sich für eine bessere Patientensicherheit lernen. Um die Suche nach Behandlungsfehlern im engeren Sinn geht es hier jedoch nicht. Ein Teil der anonymisierten Fallberichte wird auf der Plattform veröffentlicht, unter anderem als »Fall des Monats«. Außerdem analysieren von der DGPS hinzugezogene Experten den Fall mit anderen Fachleuten, etwa mit Ärzten.
Die Veröffentlichung der anonymisierten Fälle richtet sich auch an ein Fachpublikum, zum Beispiel bei der Bundesärztekammer. Ein anderer wichtiger Ertrag aus dem Projekt sollen Handlungsempfehlungen für die Patienten selbst sein, etwa Checklisten, wie in bestimmten Fällen eigene Beschwerden am besten zu kommunizieren sind. Auch einen »Tipp des Monats« wird es geben. Außerdem können per Mail zu den veröffentlichen Fällen wie auch zur Plattform selbst Anmerkungen, Fragen oder Verbesserungsvorschläge abgegeben werden.
Rall schränkt auch ein, dass die neue Plattform kein Ersatz sei für andere Wege, sich über konkrete Vorkommnisse im Gesundheitssystem zu beschweren und Beratung zu suchen. Hierfür stehen zum Beispiel in einigen Wochen wieder die jetzt neu unter dem Dach einer Stiftung organisierte Unabhängige Patientenberatung und entsprechende Stellen bei den Krankenkassen oder Kassenärztlichen Vereinigungen zur Verfügung.
Sehr zufrieden mit dem Projekt zeigt sich der Patientenbeauftragte der Bundesregierung, Stefan Schwartze (SPD): »Patientinnen und Patienten wünschen sich eine aktivere Rolle bei dem so wichtigen Thema Patientensicherheit.« Das neue System eröffne eine wichtige Mitwirkungsmöglichkeit, etwas Ähnliches existiere noch nicht in Deutschland, ein »Riesenfortschritt« sei das. Patienten nähmen Schwachstellen und risikobehaftete Situationen wahr, die sonst unter dem Radar blieben.
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