Ruth Beckermanns »Favoriten«: Lieber tolle Abenteuer erleben

Encounters: »Favoriten« von Ruth Beckermann schaut in Klassenräume

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 4 Min.
Eine stolze Regisseurin: Ruth Beckermann
Eine stolze Regisseurin: Ruth Beckermann

Majeda dreht sich zu Mitschüler*innen um, die hinter ihr im Klassenraum miteinander quatschen. »Könnt ihr nicht Türkisch reden, sondern Deutsch? Ihr dürft das nicht«, ermahnt sie die anderen. Das ist leichter gesagt als getan. Denn für die meisten der Zweitklässler*innen ihnen ist Deutsch nicht die erste Sprache. Wenn sie von ihrer Lehrerin drangenommen werden, plappern einige munter drauflos, andere suchen vorsichtig und konzentriert nach deutschen Worten.

Zweieinhalb Jahre lang haben die Regisseurin Ruth Beckermann und ihr Team eine Grundschulklasse in Wien begleitet. »Favoriten«, benannt nach dem 10. Wiener Gemeindebezirk, wirft einen warmherzigen und genauen Blick auf Schule und viele Themen, die damit zusammenhängen. Zu sehen ist der Film in der Sektion Encounters der Berlinale. In dieser Sektion wurde die Regisseurin 2022 mit ihrem Film »Mutzenbacher« mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet.

Im Mittelpunkt ihres aktuellen Films stehen 25 Kinder und deren Lehrerin Ilkay Idiskut, die mit Leidenschaft, Humor, aber auch mit Strenge Wissen vermittelt, Kinder zum Lernen ermutigt, Streitigkeiten schlichtet und mit ihnen lacht und tanzt. Die Schüler*innen bemühen sich mit großer Ernsthaftigkeit mitzuarbeiten. Sie erzählen, wohin sie im Sommer in den Urlaub fahren und was ihre Eltern beruflich machen. Ein Vater arbeitet auf einer Baustelle, ein anderer in einer Pizzeria, ein dritter bei einem Paketlieferdienst. Viele Mütter sind zu Hause und leisten Care-Arbeit. Ilkay Idiskut sagt den Kindern, dass das auch Arbeit ist. Immer wieder hakt sie ein, wenn es um Männer- und Frauenbilder, um Werte und Körpernormen geht. Sie diskutiert mit den Kindern darüber, ob Mädchen bauchfrei tragen dürfen. Bei ihr selbst rede niemand rein, was sie anziehen solle, sagt sie.

An einer anderen Stelle im Film berichten Schüler*innen, was sie später beruflich machen wollen. »Polizistin« oder »Feuerwehrfrau«, sagen einige. Eine hat eine Wissenschaftlerin mit einem dreckigen Kittel gemalt. »Sie hat ein Experiment gemacht, das ist explodiert«, berichtet das Mädchen lachend. Einen Mann und Kinder möchte sie nicht haben, sagt eine andere. Lieber Abenteuer erleben.

Deutlich wird, dass Schule ein Raum ist, der Schüler*innen neue Perspektiven vermittelt. Es ein Raum der Gemeinschaft, des Ausprobierens, aber auch der permanenten Herausforderungen. Mit schier unerschöpflicher Energie erklärt Ilkay Idiskut den Kindern Mathe und vermittelt ihnen deutsche Worte. Denn davon hängt viel ab. Hinter der heiteren Grundstimmung des Films blitzt immer wieder wie eine Mahnung die Erkenntnis auf: Welche Chancen die Kinder später im Leben haben werden, hat viel damit zu tun, wie sie hier performen. So ist die engagierte Lehrerin zwangsweise Repräsentantin eines Systems, das Kinder ständig bewertet und aussortiert.

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Neben ausgelassenen Momenten, in denen die Schüler*innen Quatsch machen und tanzen, in denen eine große Nähe zwischen Lehrerin und Kindern zu spüren ist, gibt es auch solche, in denen der Druck erkennbar wird. Schüler*innen weinen, weil die Note ihrer Klassenarbeit nicht so gut ist wie erwartet. Hilflosigkeit zeigt sich bei Eltern, die nicht verstehen, warum ihr Kind nicht aufs Gymnasium kommt.

»Favoriten« beleuchtet auch tiefgreifende Probleme wie den Mangel an Lehrkräften und Sozialpädagog*innen. Es zeigen sich einerseits Schwierigkeiten und Herausforderungen des Systems Schule. Gleichzeitig ist der Film ein erfrischendes Gegenstück zu Berichten über Schule, in denen mehrsprachige Kinder vor allem als Problem erscheinen.

Ruth Beckermann nähert sich ihrem Sujet behutsam und warmherzig, indem sie die Kinder, ihre Sorgen und Träume in den Mittelpunkt stellt. Sie gibt Einblicke in einen Teil von Gesellschaft, den alle irgendwie zu kennen glauben, in den außer dem Lehrpersonal und Schüler*innen jedoch niemand auf diese Weise vordringt. Es ist erstaunlich, wie unbefangen sich die Kinder vor der Kamera bewegen. Dabei zeigen sie ihre Unsicherheiten, sprechen über Träume, aber bekommen auch Gelegenheit zu zeigen, was sie alles mitbringen. »Ich spreche Tschetschenisch, Russisch, ein bisschen Englisch und Deutsch«, sagt eine Schülerin. So wird »Favoriten« zur Hommage an den Einsatz von Lehrkräften und zu einem warmherzigen Porträt einer jungen Generation von Schüler*innen.

»Favoriten«, Deutschland/Österreich 2024. Regie und Drehbuch: Ruth Beckermann. 118 Min. Termine: 25.2., 13.30 Uhr, Kino International (ausverkauft).

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